Rezension
von Sabine Ibing
Meine geniale Freundin
von Chiara Lagani und Mara Cerri nach Elena Ferrante
Die Neapolitanische Saga Band 1
Ein moderner Klassiker als Graphic Novel umgesetzt – ich war gespannt, da Elena Ferrante sehr ausführlich in ihrer Tetralogie nicht nur die Freundschaft zwischen Elena und Lila beschreibt, sondern gleichzeitig ein Sittengemälde der Zeit wiedergibt, soziale und politische Strukturen aufnimmt, die Übernahme der Camorra in Neapel beschreibt. Wenn ich das zusammenziehe, ist der Comic missglückt. Denn der bezieht sich wirklich nur auf einen wesentlichen Kern: auf die Beziehung zwischen Elena und Lila, zwei Lebensläufe, die gemeinsam beginnen, aber auseinanderdriften. Aber auch hier fehlen mir wesentliche Punkte, um die Charaktere zu verstehen. Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte der Graphic Novel verstehen würde, wenn ich den Roman nicht gelesen hätte – denn mit diesem Wissen bin ich voreingenommen. Zumindest hätte mich der Comic nicht beeindruckt, denn diese Geschichte ist eine gängige Freundschaft, die in der Kinderzeit entsteht: Zusammengehörigkeit, Schule, Eifersucht, Konkurrenz, Liebe, eine divergente Entwicklung als Erwachsene. Eben das ist es ja nicht, was den Roman ausmacht, denn dort wurde die italienische Nachkriegsgesellschaft und die soziale Entwicklung des Mezzogiornos, der politische und wirtschaftliche Wandel, der Einzug der Camorra, die Kluft zwischen Arm und Reich, der Kampf um Frauenrechte eingeflochten. Die Kombination ist ja genau das, was die Geschichte so liebenswert macht.
Wie im Roman ist Elena am Anfang bereits Großmutter, als sie einen Anruf von Rino, Lilas Sohn erhält. Lila sei spurlos verschwunden – freiwillig, die Schränke ausgeräumt. Elena nimmt diese Situation zum Anlass, um auf die gemeinsame Vergangenheit zu blicken. Für diese Szene lässt sich Mara Cerri viel Raum. Raffaella Cerullo, genannt Lila und Elena Greco, genannt Lenù, wachsen im Neapel der fünfziger Jahre auf, im Stadtviertel Rione Luzzatti, im Osten, dem Armenviertel. Die grauen Fassaden der Häuser wirken dort, als hätte jemand keine Lust mehr gehabt, sie zu verputzen. Das ist zeichnerisch spürbar. Die Mädchen erleben Konflikte und Gewalt zwischen den verschiedenen Familien im Umfeld, das wird angerissen, ebenso die Gewalt in Lilas Familie. Die beiden Mädchen werden ein Leben lang miteinander befreundet sein, doch sie könnten gleichzeitig nicht unterschiedlicher sein. Lenù ist die Erzählerin; sie ist eifersüchtig auf Lila, denn die ist immer eine Nasenspitze vorn. Sie ist mutiger, schlauer, immer die Erste – und sie ist fieser, brutaler, kann ziemlich gemein sein. Genau das Verhältnis kommt in der Graphic Novel gut zum Tragen. Die Freundschaft beginnt mit der Puppenszene und dem Kellerfenster, der Angst der beiden Mädchen. Schon hier schält sich heraus, wer in dieser Beziehung das Sagen haben wird. Eine Szene, die grafisch gut umgesetzt ist. Beide Mädchen sind sehr gut in der Grundschule, die Lehrerin empfielt sie für die Mittelschule. Doch zu der Zeit musste man für weiterführende Schulen bezahlen. Lilas Schusterfamile beschließt, Lila soll arbeiten. Die Lehrerin kann Lenùs Familie überzeugen, sie zur Schule zu schicken – der soziale Hintergrund ist auch ein anderer, der hier leider nicht erwähnt wird.
In das Rione gelangt man durch einen Tunnel, der pechschwarz ist, in dem die Wände tropfen. Lila und Lenù laufen Hand ihn Hand durch ihn hindurch, um das Meer zu suchen, verlassen das erste Mal ihren Stadtteil. Lila lernt für die Prüfung, ohne in die Schule zu gehen – und sie ist die Bessere, gibt Lenù Nachhhilfe in Latein. Sie ist die Hübschere, die mit Espit, die von Jungen umschwärmt wird, und sie wird zuerst heiraten. Lila ist immer vorneweg, weshalb Lenù auf sie eifersüchtig ist. Das ist gut herausgearbeitet. Gleichzeitig ist Lila auf Lenù eifersüchtig, weil sie zur Schule gehen darf – was hier nicht umgesetzt wurde. Lenùs Liebe zu Nino wird kurz angerissen – leider nicht, dass er letztendlich Lila lebt … Die Sache mit Ninos Vater ist enthalten. Völlig ausgeklammert wird die Entwicklung des Rione durch die Camorra. Das ist aber ungemein wichtig! Die Solara-Brüder mag man nicht und sie haben Geld … das reicht aber nicht, um das alles zu verstehen. Wer ist arm, wer wird reich und warum? Genau das ist ein wichtiger Punkt, der nicht hervortritt. Die Geschichte um die Schuhe ist drin, gut dargestellt.
Leider konnte mich diese Graphic Novel nicht überzeugen, weil der wesentliche gesellschaftliche Teil der Geschichte fehlt. Die Geschichte ist textreduziert und muss durch ihre Bilder wirken. Das ist sehr gut gelungen, teils sehr beeindruckend. 400 Romanseiten umgesetzt in 256 Seiten Graphic Novel mit großen Panels. Das kann nicht alles fassen. Hier ist nur die Beziehung zwischen den Mädchen thematisch aufgearbeitet, die Entwicklung, die auseinandergeht, wobei mache Szenen (tragende) sehr breit ausgewalzt werden. Für mich persönlich war die Darstellung der soziokulturellen Entwicklung des Mezzogiorno das Wichtigste an diesem Gesellschaftsroman – und das fehlt hier fast völlig. Die Story um das Silvesterfeuerwerk versteht man nicht, wenn man den Roman nicht kennt, eben eine politisch-gesellschaftliche Geschichte. «Wer mehr Geld hatte, böllerte am lautesten. Wir traten gegen die Solaras an. Plötzlich Totenstille. … Jetzt schossen sie wirklich auf uns.» Das alles ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die Entwicklung der Solaras-Familie kennt und die Auswirkung auf den Stadtteil. Mara Cerri arbeitet in Mehrfachtechnik Kohle, Tempera, Aquarell, Zeichenstift, Öltechnik – digitalisiert, die Farben sind gedeckten Naturfarben, teils diffus gehalten. Die Porträts sind ausdrucksstark, Emotionen sehr eindrucksvoll gesetzt. Die Panels sind großflächig, zwei oder vier Panels pro Seite oder einseitige Darstellungen. Der Roman ist für Erwachsene geschrieben. Der Carlsen Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 12 Jahren für den Comic, womit ich nicht konform gehe, zumal auch eine Vergewaltigungsszene integriert ist. Von mir gibt es die Empfehlung: Allage, ab 15 Jahren.
Die Illustratorin Mara Cerri wurde 1978 in Pesaro geboren. Sie illustrierte u. a. Elena Ferrantes «Der Strand bei Nacht» und Nadia Terranovas «Das Geheimnis für Mondadori». Zusammen mit Magda Guidi schuf sie die animierten Clips des Dokumentarfilms Ferrante Fever und weitere Kurzfilme. Nun zeichnete sie auch die Comic-Adaption des 1. Teils der Neapolitanischen Saga von Ferrante «Meine geniale Freundin».
Chiara Lagani, geboren am 3. Dezember 1974 in Ravenna, schloss ihr Studium der antiken Literatur an der Universität Bologna mit Bestnote und Auszeichnung ab. Als Schauspielerin und Dramatikerin verfasst sie originelle Theatertexte und nimmt immer wieder Überarbeitungen und Neufassungen von poetischen Texten und Literatur vor. So entstand auch die Comic-Adaption von Elena Ferrantes «Meine geniale Freundin».
Elena Ferrante ist als Autorin weltbekannt durch die Veröffentlichung ihrer Neapolitanischen Saga. Die Bestsellerreihe besteht aus den vier Teilen: «Meine geniale Freundin», «Die Geschichte eines neuen Namens», «Die Geschichte der getrennten Wege» und «Die Geschichte des verlorenen Kindes». Die Schriftstellerin gewann dafür viele Preise und die Reihe wurde zusätzlich als Fernsehserie adaptiert. Den ersten Band gibt es nun endlich auch als atmosphärische Graphic Novel.
Meine geniale Freundin
Die Neapolitanische Saga 1:
Die Comic-Adaption des Weltbestsellers von Elena Ferrante
Comic, Comic-Adaption, Grafic Novel, Zeitgenössische Literatur, Italienische Literatur, Klassiker
Hardcover, 256 Seiten, 198 mm x 265 mm
Carlsen Verlag, 2023
Altersempfehlung: ab 12 Jahren (Verlag) von mir ab 15 Jahren
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