Direkt zum Hauptbereich

Mahlstrom von Yael Inokai - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Mahlstrom 


von Yael Inokai


Der erste Satz Als sie hörten, dass eine junge Frau zu Tode gekommen war, kündigten sie sich zu Dutzenden an.

Eine zweiundzwanzigjährige Frau geht ins Wasser, sie trägt den schweren Mantel des Bruders, die Taschen mit Steinen gefüllt. Sie springt in den Strudel, der bekanntlich alles hineinzieht und irgendwann wieder ausspuckt – oder auch nicht. Tage später wird sie aufgefunden, eine aufgeblähte Leiche, die fette Barbara, die große Barbara, die schlaue Barbara, die ganz allein einen Raum einnehmen konnte, einen halben Tisch besetzen konnte, nur durch ihre Anwesenheit. Das Mädchen, dass die Prügel für den Bruder einstecken musste, nie anerkannt vom Vater, beste Zensuren, Gymnasium verwehrt, der Bruder darf, aber versaut den Abschluss.

An den Waden gepackt und kopfüber wie ein Sack Kartoffeln ausgeschüttelt zu werden, gehörte zur Kindheit wie das Verlieren der Milchzähne.

Der Neue im Dorf

Dieses Dorf hat nichts freundliches, man trifft auf ruppige Menschen in rauer Natur. Aber man hat Anstand, man grüßt sich höflich, auch wenn man sich gerade vorher die Nase gebrochen hat oder hinter seinem Rücken redet. Yann ist mit seinen Eltern aus der Stadt zugezogen. Raus aus der dunklen kleinen Wohnung in ein Haus auf dem Land. Aber gleich in der Schule wird klar, hier läuft alles anders, denn die Leute sprechen einen nicht verständlichen Dialekt, die Kinder sammeln sich nach der Schule in Grüppchen. Es wird gekämpft und gehauen, die Großen nehmen die Kleinen aus. Aber Yann, das Einzelkind, gehört zu niemandem hinzu. Der Zugezogene, der nicht hierher passt, ein neues Opfer.

Scham kannten diese Kinder nicht. ... Manche waren nackt, manche bekleidet. Jungen und Mädchen. Die Schönen und die Einfachen. Klein und groß und alles dazwischen.
Mittendrin einer auf Toilette.
Geschrei, wenn es zu stinken begann.
Kein ruhiger Zentimeter. Keiner gehörte sich nur allein.

Opfer und Täter zugleich

Das Dorf ist kinderreich, manch einer muss mit 3-4 Geschwistern in einem Zimmer schlafen, einige Familien haben mehr als fünf Kinder. In diesem Roman geht es um eine Gruppe von sechs Kindern. Mit dem Tod von Barbara kommt in ihnen die alte Geschichte wieder hoch. Das ist der zweite Erzählstrang. Auch Barbara trägt eine Mitschuld. Barbaras Bruder Adam, Nora und Yann berichten aus ihrer Perspektive. Die Berichte überschneiden sich teilweise, was dem Leser einen weiteren Einblick gewährt. Eigentlich drei Perspektiven. Aber wer ist die Vierte, Kapitel, über denen der Name fehlt?  Das ist interessant gelöst.

Im Winter vor elf Jahren hätten wir ihn beinahe getötet.
Wir wollten ihm eine Lektion erteilen.
Wir hatten nicht mit uns selbst gerechnet.

Yael Inokai muss intensiv an ihrem Text gearbeitet haben, reduziert, fast skelettiert gibt sie Einsichten in die Dorfwelt. Es wird nichts wirklich ausgesprochen, aber der Leser liest zwischen den Zeilen, spürt unheilschwanger das Unglück, das noch kommen wird. Barbara ist Opfer und Täter zugleich. Sie trägt eine Mitschuld und andere tragen Schuld an ihrem Tod. Barabara arbeitet nach der Schule in Baufirma des Vaters, ideenreich, verbissen, genial, erkämpft sich den Platz am Fenster. Sie ist es, die das Konstrukt zu den Terrassenhäusern entwirft, niemand außer ihr hätte das geschafft. Die Namen der aller Konstrukteure stehen am Ende auf Schildchen am fertigen Projekt. Nur der von Barbara fehlt.

Ich habe mich oft gefragt, wie man eintausend Tage in einem Dorf verbringen kann, ohne einander zu begegnen, aber meine Mutter sagte mir einmal, dass man sogar ein ganzes Leben zusammen sein kann, ohne sich gegenseitig zu sehen und wahrzunehmen.

Hier sitzt jedes Wort an der richtigen Stelle 

Eine ausgefeilte Sprache, der sich Yael Inokai bedienst. Klar und prägnant, mit einem Subtext, der alles ausspricht, was nicht geschrieben steht. Hier sitzt jedes Wort an der richtigen Stelle und es gibt kein Wort zu viel. Adam hat eine Wut auf Yann, der Leser spürt, was Yann in ihm auslöst – etwas, das nicht sein darf. Jede Erzählstimme besitzt einen eigenen Klang, an der sie wiederzuerkennen ist. Jeder Charakter steht für sich. Eine feine Geschichte mit Einblick in die Schweizer Dorfwelt.



Yael Inokai studierte Philosophie in Basel und Wien; seit 2014 besucht sie den Studiengang Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Berlin. Für ihren Roman Mahlstrom wurde sie 2018 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees

  Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Bewegung, Physiotherapie und Sport statt herumsitzen! Ein interessantes Sachbuch, logisch in der Erklärung, ein mittlerweile erfolgreiches, erprobtes Konzept. Weiter zur Rezension:    Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz...

Interview - Viola Eigenbrodt von Sabine Ibing

                                                                                                                                          © Viola Eigenbrodt Viola Eigenbrodt, freie Journalistin aus dem Kulturbereich, ihr Genre ist der Cosy-Krimi, Geschichten, die im Alpenraum angesiedelt sind, phantastische Geschichten und Entwicklungsromane. Und neuerdings ist Viola Eigenbrodt in die Kinder- und Jugendliteratur eingestiegen. Hier das Interview mit ihr:     Interview...

Rezension - Le Sud: Geschichten und Rezepte aus Südfrankreich - Provence - Alpes - Cote d’Azur von Rebekah Peppler und Joann Pai

  Das Savoir-vivre Südfrankreichs in 80 köstlichen Rezepten und stimmungsvoller Fotografie: Von erfrischenden Cocktails und kleinen Snacks über Vorspeisen, Hauptgerichte und Beilagen, bis hin zu Käse und Desserts, alles, was Südfrankreichs Küche zu bieten hat. Die Provence-Alpes-Côte d’Azur und ihre vielfältigen Koch- und Esstraditionen mit saisonalen Zutaten ausgerichtet. Frankreichs Sommerküche aus dem Süden gekonnt präsentiert. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Le Sud-Geschichten und Rezepte aus Südfrankreich von Rebekah Peppler und Joann Pai 

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Glutspur von Katrine Engberg

  Liv Jensen, ehemalige Polizistin, hat sich als Privatdetektivin in Kopenhagen selbstständig gemacht. Sie bekommt seitens der Polizei den Auftrag, Gemeinsamkeiten zwischen drei Todesfällen zu finden. Der Suizid eines Häftlings auf Freigang, der Tod einer Museumsangestellten und ein dreieinhalb Jahre zurückliegender Mord an einem Journalisten – diese Fälle können doch keine Gemeinsamkeit haben. Oder doch? Unterstützung erhält Liv dabei von Hannah Leon, einer Krisenpsychologin, die gerade selbst einen Schicksalsschlag erlitten hat, und Nima Ansari, einem iranischen Automechaniker, der selbst unter Mordverdacht gerät. Gemeinsam stoßen sie auf eine dunkle Vergangenheit, die jemand unbedingt geheim halten will. Mit allen Mitteln … Solider Krimi für ausdauernde Leser. Weiter zur Rezension:    Glutspur von Katrine Engberg 

Rezension - Skin City von Johannes Groschupf

  Gesprochen von Florian Schmidtke Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 6 Std. und 37 Min. Der Dienst im Außenbezirk sollte Ruhe in das Leben der Kriminalpolizistin Romina Winter bringen. Doch georgische Einbrecher sind täglich in den Stadtvillen in Dahlem und Lichterfelde unterwegs, und die Bewohner sind in der Folge verängstigt. Die Polizei muss wachsamer sein! Und dann verschwindet auch noch Rominas kleine Schwester. Jacques Lippold nimmt den Berliner Geldadel ganz legal aus, denn er arbeitet als Kunstberater. Berliner Szenen aus verschiedenen Sichtweisen, die sich irgendwann kreuzen werden. Gut aufgebaute Charaktere und atmosphärisches Berlin-Milieu-Feeling heben den Krimi ab, der gut geschrieben eine Empfehlung ist! Weiter zur Rezension:    Skin City von Johannes Groschupf