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Lügentochter von Megan Cooley Peterson - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Lügentochter 


von Megan Cooley Peterson


Der Anfang: 

Ein Bett.

Ein Fenstersitz.

Ein zerkratzter Schreibtisch mit Blümchenstickern auf den Schubladen.

Das sei alles meins, sagen DIE.

Die Frau kommt mich holen und führt mich einen Flur runter, der so eng ist, dass die Wände mich fast zu erdrücken scheinen.


Pipers Vater ist ein Prophet. Er ist der Auserwählte, der die Familie vor der Außenwelt schützen muss, vor der Regierung retten, vor DENEN. Handystrahlen, Elektrik, Elektronik, Düngemittel, Chemie – das alles zerstört den Menschen, die Welt, sagt der Vater, der einen Krieg prophezeit, auf den man sich vorbereiten muss. Darum wohnt die kinderreiche Familie mit ein paar Helfern auf einem abgeschiedenen Gehöft, das früher einmal ein Vergnügungspark war, nur noch in Fragmenten besteht. Hier sind sie geschützt vor DENEN. Denn DIE sind hinter ihnen her. Vater und Mutter sind selten zu Hause, sie müssen für die Kolonie des Vaters werben, die weit entfernt liegt, die Kolonie der Wissenden betreuen und das gesamte Firmengeflecht. Das Gehöft befindet sich an einem See. Hier trainiert Piper fast jeden Tag – und sie ist eine gute Schwimmerin. Und nun sitzt sie hier. Eingesperrt in das Haus dieser Frau, die behauptet, dieses Zimmer, dieses Haus sei nun ihr neues Zuhause! Aber Piper wird wegrennen und ihre Eltern suchen! Der Vater hatte recht: Eines Tages werden Menschen kommen und Lügen verbreiten, DIE werden behauten, der Vater sei ein Schwindler. Doch Piper ist schlau, sie lässt sich von DENEN nicht brechen.


Ein Leben DAVOR und DANACH

Ich bin der Einzige, der für eure Sicherheit garantieren kann. Aber das erfordert harte Arbeit und Disziplin, denn im Leben gibt es nun mal nichts umsonst. Die Außenwelt ist verdorben, dem Untergang geweiht. Seid ihr bereit zu tun, was nötig ist, um die Menschheit zu retten?› 

‹Ja, Sir›, sagen wir im Chor.


Die 17-jährige Piper ist in einer Sekte aufgewachsen und hier gelten ziemlich harte Regeln. Gehorsam steht an erster Stelle, die Strafen treffen hart. Indoktrinierung durch Abschirmung von der Außenwelt, emotionale Abhängigkeit von Kindern durch Eltern. Der Jugendroman zeigt gut auf, wie schwer es ist, indoktrinierte Menschen von der Realität zu überzeugen – besonders Jugendliche, die nie etwas anderes kennenlernten, als die eigene falsche Wahrheit, Manipulantion auf tiefer psychischer Ebene. Die Wurzeln liegen in der Kindheit, in den Werten, die hier gesetzt werden. Der Plot wechselt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, DAVOR und DANACH. Der Leser pendelt kapitelweise vom Jetzt zur Erinnerung. Was war: die enge Beziehung zwischen den Geschwistern, die zur unnahbaren Mutter, die immer wieder verschwindet, an den Vater, dem man zu gehorchen hatte, den man fürchtete. Im Jetzt berichtet Piper von ihrem Misstrauen gegen die Frau, die sie gefangen hält. Warum schließt sie alle Zimmer ab, Haus und Gartentor? Wahrscheinlich vergiftet sie das Essen, versucht sich, bei ihr einzuschleimen, glaubt Piper. Doch diese Frau geht sehr professionell mit dem Mädchen um. Bedrängt sie nicht, bequatscht sie nicht. Sie lässt Piper ihre Ruhe, versucht sich ihr behutsam zu nähern. Und so langsam kommt Piper das ein oder andere komisch vor, es gibt fragmentale Erinnerungen ...


Faktencheck, News von Fakenews trennen

Schade, dass der Magellan Verlag sich nicht am Originaltitel orientiert hat: «The Liar´s Daughter» – Die Tochter des Lügners. Der deutsche Titel Lügentochter deutet ja darauf hin, dass es sich bei der Protagonistin um eine Lügnerin handelt – was keinesfalls stimmig ist. Die Wahrheit ist schmerzhaft für Piper und sie kommt Stück für Stück an Licht, stürzt sie zunächst in den Abgrund. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Hier gibt es noch eine besondere Wendung im Plot, die der aufmerksame Leser ab spätestens der Mitte ahnt. Megan Cooley Peterson hat eine sehr glaubhafte Jugendliche geschafften, der die Welt unter den Füßen weggezogen wird, ein psychisch schwer zu verkraftender Prozess. Was passiert, wenn du sein ganzes bisheriges Leben in Frage stellen musst, du feststellst, dass dein Urvertrauen missbraucht wurde? Im Nachwort fordert die Autorin auf, die Welt mit eignen Augen zu betrachten, sich zu informieren, sich seine eigene Meinung zu bilden, nicht gleich alles zu glauben, was einem nahestehende Menschen erzählen. Nachforschen, der Wahrheit auf den Grund gehen. Ein Jugendbuch, das in die heutige Zeit passt – Faktencheck, News von Fakenews trennen, traditionell Gegebenes zu hinterfragen. Der Roman wird ab 13 Jahren empfohlen, ich würde ihn ab 14 Jahren verschenken – auf jeden Fall wärmstens empfehlen. Die Story ist spannend, nimmt uns mit in Pepers Gedanken, in ihre Ängste, in ihr Misstrauen, ihre Verzweiflung, wenn sie sich eingestehen muss, dass VORHER eine Lüge war.



Achtung Spoiler!!!!!!


Am Ende gibt es eine feine Szene, als Piper ihre Mutter im Gefängnis besucht, denn sie möchte verstehen. Was sie begreift, ist, dass die Frau, die sie so sehr bewunderte, ihre Kraft und ihre Stärke, ihre Schönheit, nur ein schwaches Häufchen Elend ist; indoktriniert, seelisch abhängig, lebensunfähig.


Megan Cooley Peterson ist Autorin, Lektorin und Kaffeetrinkerin. Als Teenagerin war sie Teil einer sektenartigen Kirchengemeinschaft, deren Lehren nicht hinterfragt werden sollten. Megan fragte trotzdem. Sie hat bereits mehr als achtzig Kindersachbücher über eine Vielzahl an Themen geschrieben. Lügentochter ist ihr erstes Jugendbuch. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt sie in Minnesota.


Megan Cooley Peterson 
Lügentochter
Originaltitel: The Liar´s Daughter
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sandra Knuffinke, Jessika Komina
Jugendbuch, Jugendroman, Sekten, Sektenausstieg, amerikanische Literatur
Hardcover, 320 Seiten
Magellan Verlag, 2021
Altersempfehlung: ab 13 Jahren





Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
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