Rezension
von Sabine Ibing
Leeres Spanien
von Sergio Del Molino
Reise in ein Land, das es nie gab
Als ich ein Reporter war und viel umhergereist bin in Spanien, habe ich damit begonnen, über die Landschaft, über diese Leere nachzudenken. Aber ich wollte nie ein journalistisches Buch schreiben.
75 Prozent der spanischen Gesamtbevölkerung lebt in Großstädten und an der Küste. Das Landesinnere hinterlässt den Eindruck gähnender Leere. Man kann hunderte Kilometer fahren, aber keine Stadt ist in Sicht. Bei unserer Reise durch das nördliche Andalusien durchquerten wir ein Meer von Olivenbäumen; kilometerlang kein Haus in Sicht. Wir hatten das Gefühl, die einzige Pflanze, das einzige Lebewesen dieser Gegend seien Olivenbäume. Dann trifft man auf das ein oder andere Gehöft, irgendwann auf ein kleines Dorf, umgeben von Oliven und weiter geht es durch das unbewohnte Land. Wenige verstreute Dörfer. Geister-Dörfer – über 3000 Dörfer sind heute in Spanien komplett verlassen. Wie kam es zu dieser ungeheuren Landflucht? Was sind die Auswirkungen? Wann hat das begonnen? Oder war das schon immer so? Sergio Del Molino erzählt von einer urbanen Revolution, die unter der Industrialisierung im faschistischen Franco begann. Doch er blickt viel weiter zurück, beschreibt, wie verächtlich die Landbevölkerung von den Bürgern der Stadtbevölkerung schon immer gesehen wurde, von Herrschenden und Adel – und wie sich das auf die Politik auswirkte. Dieses Buch von 2016 war in Spanien ein Bestseller und es hat eine Menge Diskussionen entfacht, politische Prozesse in Gang gesetzt, es werden Fernsehdokumentationen über das entvölkerte Spanien gezeigt, Zeitungen berichten nun regelmäßig darüber.
Kein Diktator hat das ländliche Spanien dermaßen und derart hartnäckig schlecht behandelt wie Franco. Er begünstigte nicht nur den Exodus, der für das große Trauma verantwortlich war und das Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land so aus dem Ruder laufen ließ, dass bis heute weder Hilfsgelde in Milliardenhöhe noch irgendwelche Entwicklungspläne oder sonstige agrarpolitische Initiativen der EU daran etwas hätten verändern können.
Dicht besiedelt war die Mitte noch nie, aber zwischen 1950 und 1970 setzte unter der Franco-Diktatur die große Landflucht ein, alle Städte verdoppelten und verdreifachten ihre Einwohnerzahl; im gleichen Maße verlor das Land. Große Staudämme wurden hochgezogen, dazu Täler überschwemmt, um die Städte mit Wasser und Strom zu versorgen – dafür mussten viele Menschen umgesiedelt werden. Alles Gefährliche und Unbequeme wurde ins Innere gelegt: Kernkraftwerke, Fabriken, Militärübungen (man stellte Hitler sogar eine Region zur Verfügung, um Bomben zu testen – ohne Rücksicht auf die Bevölkerung). Eine Uranmine im Ländlichen entpuppte sich als giftiges Desaster. Amüsant auch ein Vergleich: Einige Nationen schickten damals ihre Strafgefangenen in die neu entdeckten Kontinente, um sie loszuwerden. Spanien stecke seine Verurteilten schlicht ins Exil: ins Landesinnere. Die Landflucht hatte immer etwas mit Arbeit zu tun – aber auch mit extrer städtischer Verachtung für die Dörfler – mit der Mentalität einer Schicht, die dazugehören wollte. Dorftrottel erkannte man von weitem, am Gang, an der Kleidung, an der Sprache – am ungebildet sein. Wer in die Stadt zog, der konnte ein Städter werden, ein geachteter Bürger, konnte sich am Überangebot der Waren erfreuen. «Trotzdem lässt sich das urbane Spanien ohne das leere Spanien nicht verstehen. Die Geister des Letzteren leben auch in den Häusern des Ersteren.» Mit der Landflucht zog aber die ländliche Identität mit in die Metropolen. Elendsviertel entstanden an den Rändern der Städte.
Mit dem neuen Wahlgesetz gab die junge Demokratie nach Francos Tod dem leeren Land ein Mittel in die Hand, um sich zu rächen. ... Die Verfassung von 1978 und das von ihr neue eingeführte Wahlsystem verschafften den wenig besiedelten Provinzen die Möglichkeit, parlamentarische Mehrheiten zu bilden.
Dank des neuen Wahlgesetzes hatte das «verspottete Spanien der Bauerntölpel, Barbaren und Verbrecher» nun großen Einfluss, den sich die konservativen Karlisten zu eigen machten. Bestechung und Kumpaneien nahmen Einfluss – ländliche Wählerstimmen hatten plötzlich viel mehr Gewicht als die der Städte – die Stimmen aus der Kleinstadt Soria (39.112 Einwohner) im Aragon hat entsprechend den Wert von 5,9 Stimmen aus Madrid (3,223 Millionen Einwohner). Sergio Del Molino erklärt, wie daraus ein Zweiparteiensystem entstand. Und er erklärt die großen Demos der Quinquis, der Empörten. Der Autor führt an, dass Patriotismus in Spanien keine große Rolle mehr spielt, und bis vor kurzem keine Fahnen auf den Straßen zu sehen waren. Erst zur WM 2010 kamen die Banner auf. Bis zum Sieg der Nationalmannschaft sagte man, nur Spinner und Faschisten würden die Fahne auf den Balkon hängen. Eine Parallele zu Deutschland – man schämte sich für das faschistische Vaterland der Mitte des 20. Jahrhunderts. Italien geht anders damit um. Man redet nicht drüber. Und worüber man nicht redet, das hat es nie gegeben. Das Buch kam 2016 heraus. Ich denke, heute würde der Autor anders argumentieren, differenzieren. Denn die neue nationalistische Bewegung in Katalonien und Valencia, die nun sogar die Regionssprachen in der Schule einführten, Spanisch nur noch als unwichtige Fremdsprache unterrichten, hat Feuer entfacht.
Cervantes hat La Mancha erfunden. Für ihn war La Mancha ein Witz.
Sergio Del Molino zitiert auch eine Menge aus der Literatur und stellt fest: «Der grausam-verächtliche Blick auf das Hinterland der iberischen Halbinsel ist ein spanischer Blick. Die Schilderung von der Dürre und Unfruchtbarkeit fällt bei Nichtspaniern nie so drastisch aus wie bei Spaniern.» Seit Jahrhunderten gilt der spanische Bauer als ungelenker Vollpfosten und das Landesinnere als hässlich. Ausländische Literaten haben eine Schönheit in den Bergen und Ebenen finden können, die schillernden Farben der Steine, die Ästhetik der Bergwelt. So etwas wie Landliebe der englischen Literatur gibt es in Spanien nicht, es gab immer nur Verachtung. Und das prägt sich natürlich in das kulturelle Gedächtnis der Bevölkerung ein. Sergio Leones Spaghetti-Western «Für eine Handvoll Dollar» mit Clint Eastwood und viele andere Filme wurden im Landesinneren von Spanien gedreht – eine Wüste aus den USA oder Mexiko vortäuschend. Mehrere Burgen und Landschaften wurden für den Film «Game of Thrones» ausgesucht. Der bekannte spanische Film von Luis Buñuels «Las Hurdes – Land ohne Brot» (1933) wird in diesem Buch auseinandergenommen. Sergio Del Molino kann durch Augenzeugenberichte beweisen, dass hier maßlos übertrieben und geschauspielert wurde. Niemand musste in Las Hurdes hungern. Es geht in diesem erzählerischen Sachbuch nicht um Anklagen, auch nicht um Klagegesang, sondern um Offenlegung der Tatsachen und Ursachenforschung. Genau das macht es sympathisch. Die Dörfer im Landesinneren werden sich weiter leeren, weil sie oft nur noch Altersheime sind, von Rentnern bewohnt – verstorben oder pflegebedürftig von den Kindern in die Stadt geholt. Wer Spanien verstehen möchte, kommt um dieses Buch nicht herum. Empfehlung!
Die Migranten der ersten Generation haben all ihre Traditionen und Bilderwelten in die Städte mitgebracht. Dieses kulturelle Erbe wurde zu einem Phantom, weniger verbunden mit dem Land, sondern mehr mit der Imagination. Diese Vorstellungen von einer Welt, die verschwunden ist, umgeben uns. Wir haben sie geerbt und transformiert.
Sergio del Molino, 1979 in Madrid geboren, Journalist, preisgekrönter Schriftsteller und Kolumnist für «El País». Als Zeitungsreporter hat er weite Teile des spanischen Hinterlandes bereist. «Leeres Spanien» wurde 2016 von vielen Zeitungen zum wichtigsten Buch des Jahres erklärt und mittlerweile mehr als 150.000 Mal verkauft, sein Titel ist zum stehenden Begriff geworden. «Ich bin der Autor des leeren Spanien. Das ist jetzt mein Label, obwohl ich über viele andere Dinge geschrieben habe. Das hat meine Karriere beeinflusst, die Art wie die Leser auf mich blicken.» Del Molino lebt in Zaragoza, einer der wenigen Städte des ››leeren Spaniens‹‹.
Leeres Spanien
Reise in ein Land, das es nie gab
Aus dem Spanischen übersetzt von Peter Kultzen
Sachbuch, Essay, erzählerisches Sachbuch, spanische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten
Wagenbach Verlag, 2022
Eine Liebe von Sara Mesa
Dies ist keine Liebesgeschichte – oder etwa doch? Wenn ja, zu wem oder was? Eine junge Übersetzerin, in den Dreißigern, mietet ein klappriges Haus in einem Dorf im Landesinneren, wo sie die nötige Ruhe finden will, um ihren ersten literarischen Übersetzungsauftrag zu schreiben. Die Sprache von Sara Mesa ist schnörkellos, reduziert. Drei Kapitel – ein Dreiakter, eine griechische Tragödie. Nat gerät in eine Abhängigkeitsschleife zu einem Mann, der sie behandelt wie eine Plastikpuppe. Übergriffige Männer, Kommunikationsfehler – nicht Nein sagen können; ein Roman mit Leerstellen, der einige gesellschaftlich-moralische Fragen stellt; eine Frau auf der Suche nach sich selbst, nach dem Seil, die Glocke über sich selbst abzuzielen. Sara Mesa schafft eine dichte, klebrige, verstörende Atmosphäre. Eine feine spanische Novelle.
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Wir alle sind Widerlinge von Santiago Lorenzo
Manuel ist ein Pechvogel. Nach dem Ingenieurstudium arbeitslos, jobbt er sich mit Kurzzeitangeboten im wirtschaftskriselnden Spanien durchs Leben, bis er in Madrid bei einer Telefongesellschaft eine feste Stelle im Callcenter erreicht. Endlich zu Hause Ausziehen. Während der großen Demos der Quinquis verwechselt ihn ein Polizist mit einem Demonstranten, geht mit dem Knüppel auf ihn los. Manuel wehrt sich mit dem Schraubendreher ... Nun ist er auf der Flucht, versteckt in einem verlassenen Dorf in den Bergen, führt ein liebgewonnenes Eremitenleben. Das Idyll wird erschüttert von einer Horde Störenfriede. Beste Gesellschaftssatire aus Spanien! Empfehlung!
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Spanische Literatur
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Sachbücher
Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.Sachbücher
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