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Kongo Blues von Jonathan Robijn - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Kongo Blues 

von Jonathan Robijn


Der Anfang: Als Morgan am Neujahrsmorgen gegen sieben Uhr von der Bäckerei De Graaf heimging, sah er sie, zusammengesackt an der Wandbegrünung vor Smolders Fahrradwerkstatt. Sie hatte die Knie angezogen, die Arme über Kreuz, ihr Kopf ruhte darauf.

Kongo Blues ist ein wundervoller Roman, aber warum weist ihn der Nautilus Verlag ihn als Kriminalroman aus? Die reinen Krimileser verärgert man eher, wenn man ihnen unter solchem Lockangebot Literatur unterjubelt, auch wenn sie lesenswert ist. Aber nun auf zu diesem bemerkenswerten Roman. Der Jazzpianist Morgan kommt früh am Neujahrsmorgen nach einem Auftritt nach Hause, als er in der klirrenden Kälte eine Frau entdeckt, bewusstlos, kurz vor dem Erfrieren. Er schleppt die anscheinend Betrunkene in seine Wohnung. Eine elegante Frau mit ziemlich viel Geld in der Manteltasche … er wundert sich. Sie bedankt sich am nächsten Tag, sie sei Diplomatin, und sie verschwindet in die Gassen von Brüssel.

Er ließ sie rein und spürte die Kälte, die sie mit ins Zimmer brachte, als zerre sie einen unwilligen Hund hinter sich her.

Wer ist diese geheimnisvolle Frau

Ein paar Tage später steht sie, die sich Simona nennt, mit zwei Koffern vor der Tür, fragt, ob sie ein, zwei Nächte bei Morgan bleiben dürfe, alle Hotels seien ausgebucht. Wer ist diese geheimnisvolle Frau, die nichts über sich erzählt, die ständig einkauft, für sich, auch Morgen in feinen Zwirn einkleidet, ihn in feine Restaurants einlädt, interessanten Leuten vorstellt? Von wegen ein bis zwei Nächte, die Zeit bei Morgen zieht sich hin und er fängt an, sich in die rätselhafte, unnahbare Simona zu verlieben … doch plötzlich ist sie verschwunden, der Schrank von Morgen hängt voll von ihren Kleidern. Wer ist sie? Gut – die Story beginnt kriminell klingend, geheimnisvoll und Morgen beginnt über sich und sein Leben zu recherchieren, über das der Frau, da es hier mögliche Querverbindungen zu vermuten gibt. Eine Geschichte, die Ende der Achtziger spielt.

Vielleicht lag es daran, dass sie aus Afrika kam, vielleicht dachte er deshalb, sie könne ihn begreifen, obwohl ihre Haut weiß war.

Es gab eine Epidemie in Afrika

Morgan ist farbig, aufgewachsen in einer weißen Familie, die ihn immer gut behandelt hat, sein richtiger Name ist Roman. Es gab eine Epidemie in Afrika, sagten die Zieheltern, deine Eltern sind tot. Er stammt von irgendwo in Afrika von Irgendwem in Afrika. Er hatte das akzeptiert, aber letztendlich trieb Roman etwas von seinen Adoptiveltern weg. Trotz aller Freundlichkeit und guter Bildung, die man ihm zukommen ließ, verließ früh das Haus, um Musiker zu werden, kappte das Band zu Vater und Mutter, nannte sich Morgan. Obwohl er Brüssel nie verließ, ließ er sich nie wieder in dem Haus blicken, in dem er aufgewachsen war. Er wohnt in einer kleinen billigen Wohnung, vollgestellt mit Möbeln aus dem Sozialkaufhaus. Aufträge für Livemusiker gibt es kaum noch, und sie werden schlecht entlohnt. Morgen ist geplagt von Schwermut, die er nicht zugeben mag, eine Entwurzelung, die tief in ihm steckt. Immer wieder gibt es kleine Andeutungen, wie schwer es Farbige noch heute in Belgien haben, anerkannt zu werden.

Er versuchte, wieder ein unauffälliger Bestandteil der Stadt zu werden, anwesend, aber austauschbar wie das Kopfsteinpflaster vom Grote Markt, die lustigen Zigeuner-Bands, die Leutreklame auf dem Boulevard Jacqmain oder die Restaurants, die es dort zu Dutzenden gab und von denen jedes Jahr einige pleite gingen.

Dunkle Kolonialzeit - Belgisch-Kongo

Der Roman beschäftigt sich historisch mit der dunklen Kolonialzeit Belgiens, Belgisch-Kongo, das in den Fünfzigern an den Kongo zurückgegeben wurde. In der Kolonialzeit  war den weißen Männern alles erlaubt in den Dörfern, wie im Roman angedeutet wird. Es gab keine Regeln in Bezug auf Frauen. »Es war alles möglich.« Schwarzen Frauen wurde pauschal abgesprochen, dass sie ihre Kinder im Sinne von Weißen aufziehen können, und so nahm man ihnen die Mischlingskinder ab, denn die Väter wollten, dass ihre Abkömmlinge gut erzogen werden, so die Begründung nach außen. Aber letztendlich störten die Mischlingskinder das damalige Bild von der strikten Trennung zwischen der weißen und der schwarzen Gesellschaft in den Kolonialländern, das aufrecht erhalten werden musste. Die Männer konnten und wollten ihre Sprösslinge nicht mit nach Hause nehmen, ihren Ehefrauen und Familien präsentieren. So landeten allein in den 1940er und 1950er Jahren mehr als 5000 Kinder in katholischen Klöstern. Als nun der belgische Staat seine Kolonie in den 1950er an den Kongo zurückgab, entschieden die Belgier, man müsse den Mischlingsnachwuchs der Weißen vorm schwarzen Mann retten. Und so wurden die Zöglinge aus den Klöstern zum zweiten Mal entwurzelt: Sie kamen nach Belgien, wurden in Adoptivfamilien vermittelt, bzw. wurden auf belgische Heime verteilt. Dabei verloren diese Kinder den letzten Kontakt zu ihren Angehörigen in ihren Heimatländern und damit auch die Bindung zu Afrika. Obendrein waren die sogenannten »Métis de Belgique«, die Belgische Mischlinge, zeitlebens dem Rassismus ausgesetzt, wurden noch in den 1960er und 1970er Jahren als »Neger« beschimpft und diskriminiert.

Der Roman lebt von feinen Andeutungen

Jonathan Robijns Roman »Kongo Blues« ist im Original unter gleichem Titel verlegt, allerdings als Roman, nicht als Krimi. Es geht um eine Spurensuche, die Suche nach der eigenen Identität. Morgen ist neugierig geworden und langsam kommen kleine Erinnerungsfetzen hervor, nicht genaues, schemenhafte Bilder. Nie hatte er seinen Eltern die Geschichte mit der Epidemie abgenommen. Ein harter Bruch mit den »Eltern« – denen er nie vertrauen konnte, weil er wusste, dass sie ihn anlogen – und er nimmt einen Künstlernamen an, die verlogene Identität abzustreifen. Ein Roman, der melodisch in seiner Sprache daherkommt, melancholisch und empathisch. Langsam steigen Bilder in Morgan auf und je tiefer er recherchiert, mit Menschen spricht, umso mehr nimmt uns der Autor mit eine rassistische großherrliche Kolonialzeit. Der Roman lebt von feinen Andeutungen, er sticht hier und da in altem Gestrüpp, Kopfkino geht beim Lesen auf, über das, was unter der Oberfläche verborgen bleibt. Anspielungen wie »alles erlaubt mit Frauen«, Subtext in Bezug auf Bereicherung, Eisenbahnlinien, Diamanten, Schweizer Konten und Schließfächer … Ja, es gab Verbrechen: an den farbigen Frauen, sicher an der gesamten kongolesischen Bevölkerung. Ein Verbrechen an der Seele der Kinder, denen man die Familie und die Heimat nahm, die Identität. Zu damaliger Zeit legitim, ein Verbrechen an der Menschheit – aber es ist kein Kriminalfall. Ein feiner Roman, an dem man nicht vorbeigehen sollte.


Jonathan Robijn, geboren 1970 in Gent, studierte Soziologie und Psychologie und arbeitete für Ärzte ohne Grenzen, er schreibt Kurzgeschichten und Romane; sein »Debüt De stad en de tijd« war 2013 für den Gouden Boukenuil nominiert. Kongo Blues ist sein erster Roman, der in deutscher Sprache erscheint.

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