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Kleine Grausamkeiten von Liz Nugent - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Kleine Grausamkeiten 


von Liz Nugent


Der erste Satz: 

Alle drei Drumm-Brüder waren auf der Beerdigung, einer von uns allerdings im Sarg.


Dieser erste Satz ist perfekt und sagt bereits alles aus, was man über diese Familie wissen sollte. Drei gegen einen – wobei immer die Seiten wechseln, so beschreibt der Erzähler, einer der Brüder, das Verhältnis. Und er drückt sich bei der Trauerfeier ein Tränchen heraus, weil er die schauspielerische Gabe der Mutter geerbt habe. Der andere bleibt emotionslos. Der Leichnam war zerschmettert und furchtbar zugerichtet, und es gibt Ermittlungen, erfährt der Leser. Möglicherweise trug jemand Schuld an den Tod – dieser Faden wird erst am Ende wieder aufgenommen und aufgelöst. Der Leser fragt sich nach dieser ersten Seite im Verlauf, wer von den dreien im Sarg landen wird.


Nicht unbedingt Kriminalliteratur

Die Geschichte einer Dubliner Familie, bösartig, mit toxische Verbindungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern folgt. Letztendlich ist es ein Familienroman. Warum dieses Buch als Kriminalroman gelistet wird, ist mir ein Rätsel – wegen dieser ersten Seite? Es gibt jede Menge Verbrechen an der Seele – aber wenn es um den Tod von jenem Bruder geht, so dieser Tod nicht Bestandteil des Plots. Oft stört es mich, wenn etwas als Kriminalliteratur beworben wird und ich dann einen Liebesroman oder sonst irgendwas erhalte. Hier war es in Ordnung – weil mir ein guter Roman Lesevergnügen bereitet hat. Wenn dies ein Krimi ist, fallen mir andere gute Familienromane ein, die auch mit dem Tod eines Mitglieds anfangen (rückwärts erzählt) oder enden, die sich aus vielen Ereignissen in der Familie zusammensetzen, die oft sogar von einem Mitglied der Familie recherchiert werden, was hier nicht der Fall ist.


Rette sich wer kann, vor dieser Mutter


Dad, bist du das erste Rad?›

‹Wie meinst du das?›

‹Mum hat gesagt, ich wäre das fünfte Rad am Wagen.› ...

‹Sie hat gesagt, sie schickt mich zu der alten Frau, die im Wald lebt.


Rette sich wer kann, vor dieser Mutter, vor dieser Familie! «Kriminell» ist das, was die Mutter dem Jüngsten am laufenden Meter antut, das, was die Brüder sich gegenseitig antun. Mum, Melissa Craig, ist in jungen Jahren eine berühmte Sängerin und Schauspielerin, egozentrisch und exzentrisch bis zum Tod. Der Vater hält zu Hause die Familie zusammen, schmeißt den Haushalt, während ihrer Abwesenheit. Ein unscheinbarer Mann, fünfzehn Jahre älter als seine Frau, einer der alles schluckt, auch die vielen Seitensprünge. Von Geburt an zeigt sie Luke ihre Missachtung, ignoriert ihn, bzw. sagt ihm Dinge, die man kaum aushalten kann. Wenn sie ihn ins Vertrauen zieht, erzählt sie ihm böse Familiengeheimnisse, die das Kind, der Jugendliche, kaum versteht, schon gar nicht verarbeiten kann. Als er sie mit dreizehn fragt, warum sie ihm immer nur schlimme Dinge anvertraut, bei den Brüdern die guten Nachrichten verbreitet, sagt sie ihm, jeder bekomme das, was ihm zusteht. Sie droht ihm als Kind ständig, ihn zur Hexe in den Wald zu schicken. In seiner Verzweiflung wendet sich Luke bereits als Kind Gott und Jesus zu, neigt zu religiösem Wahn und hysterischen Anfällen, veranstaltet manch schräge Dinge, ist psychisch labil. Er ist ein guter Schüler, beginnt ein Ingenieurstudium, bricht ab, als er plötzlich mit seiner Band zum Teeny-Popstar katapultiert wird, erhält weltweiten Ruhm, verdient Millionen. Aber der manisch-depressive Luke hat immer wieder drastische Zusammenbrüche, versinkt in Alkohol und Drogen. Mit seinem Verhalten eckt er überall an. Der Abstieg ist vorprogrammiert.


Will nimmt sich, was er will!


Wenn meine Mutter kochte, bekam Will immer größere Portionen als ich, und Luke bekam die kleinste.


Der gut aussehende, charismatische William ist Mamas Liebling, denn er kann nach seinem Studium schnell durchstarten, erarbeitet sich bald eine Karriere als Filmproduzent. Ein Chauvi, und misogyn wie er im Buch steht. Brian sagt über ihn: Er nimmt sich, was er will! Ob nun das größte Kotelett am Tisch oder Frauen. Brians große Liebe, Susan, interessiert sich für William, heiratet ihn, als sie schwanger ist. Die Ehe zerbricht später, da William sie ständig betrügt. Für Will erhält eine Frau nur über die Besetzungscouch eine Rolle. Seine Tochter Daisy, ist ein verwöhntes, zickiges Mädchen, das halbherzig seinen Platz in der Welt sucht, aber nicht findet. Brian läuft unter dem Radar. Weder ist er so attraktiv und charismatisch wie seine Brüder, noch ist er erfolgsverwöhnt; ins Show-Buss hat er es nicht geschafft. Anfangs arbeitet er als Englischlehrer; auch ohne Erfolg. Weil er geldgierig ist, hängt er sich gern an andere heran, um vom Kuchen ein Stück abzusahnen. So übernimmt er nach den Zusammenbrüchen von Luke dessen Management, eignet sich sein Haus an, zieht ordentlich was von den Gagen ab, und das ist noch längst nicht alles. Brian und William sind seit der Kinderzeit harte Konkurrenten, wischen sich ständig gegenseitig eins aus. Die Eifersucht auf den anderen Bruder nagt an beiden tagtäglich. In ihrem Neid lassen sie sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen, die teilweise Katastrophen auslösen. Beide sind grundsätzlich als morallos zu bezeichnen, wenn es um ihre eigenen Belange geht. Der psychisch labile Luke dient als Spielball. Aus den kleinen Grausamkeiten der Kindertage wachsen hinterhältige Freveltaten in der Drumm-Familie. Eine Familie voller Egozentriker.


Komplexe Persönlichkeiten, eine grausame Mutter, um deren Gunst die Kinder buhlen


Wenn Will über Frauen redete, waren sie entweder Sexobjekte oder Unannehmlichkeiten.


Liz Nugent lässt die Familiengeschichte aus der Sicht der drei Brüder erzählen. William, der älteste, erhält das größte Kapitel, ihm folgt Luke, den kleinsten Part bekommt Brian und am Ende geht es in kurzen Abschnitten im Schlagabtausch. Die Erzählungen aus der Familienchronik sind nicht linear aufgebaut, die Ausschnitte mit Jahreszahlen am Anfang bezeichnet. Nur wenig wird doppelt erzählt, und wenn, dann aus einer anderen Sicht, bzw. die Situation wird weitererzählt. Die Charaktere sind geschickt und glaubwürdig aufgebaut. Man mag keinen dieser Protagonisten, mit Luke hat man Mitleid – aber gerade darum sind die Figuren faszinierend – eine dysfunktionale Familie, die nicht mit dem Messer aufeinander losgeht, aber genauso scharf zusticht. Komplexe Persönlichkeiten, eine grausame Mutter, um deren Gunst die Kinder kämpfen. Dieser Roman ist auch Zeitreise in Pop und Filmkultur von den 70er Jahren bis in die Gegenwart. Mit Muttern in der VIP-Lounge treffen die Jungen auf den grummligen Bob Dylan, auf einen aufgeschlossenen Bono usw. William gerät in die #metoo Kampagne. Diese Familie ist schlimmer als die Carrigtons oder die Sopranos – denn diese Charaktere sind glaubhaft. Eine spannende Lektüre, ein feines Drama – Empfehlung.


Liz Nugent, geboren 1967 in Dublin, hat für irische Radio- und Fernsehsender und für das Theater geschrieben. Bereits ihr erster Roman Unravelling Oliver (dt. «Die Sünden meiner Väter»), erschienen 2014, wurde ein großer Erfolg und Crime Novel of the Year bei den Irish Book Awards. Auch ihre folgenden Bücher «Lying in Wait» und «Skin Deep» wurden mit Preisen ausgezeichnet und landeten auf den irischen Bestsellerlisten. Nugents Romane erscheinen in fünfzehn Sprachen. «Kleine Grausamkeiten» erschien 2020 in Irland, England und den USA und wurde von der New York Times sofort als einer von sieben Most Recommended Thrillers of 2020 gelistet.


Liz Nugent 
Kleine Grausamkeiten 
Originaltitel: Our Little Cruelties
Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Razum
Familienroman, irische Literatur, Kriminalliteratur
Hardcover Leinen, 400 Seiten
Steidl Verlag, 2021



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
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Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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