Direkt zum Hauptbereich

In der Hitze eines Sommers von Emma Flint - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



In der Hitze eines Sommers 


von Emma Flint

Sprecher: Hans Jürgen Stockerl, Shandra Schadt
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 13 Std. und 14 Min.


Der Anfang: In den wenigen Nächten, in denen sie Schlaf findet, fühlt sie sich wieder als die Frau, die sie einmal gewesen ist. Selten schlief sie mit Nachthemd, sie lag auf dicken, aufgeschüttelten Kissen, die Feuchtigkeitscreme ließ ihr Gesicht glänzen. Manchmal erwachte sie in zerwühlten Bettlaken mit irgendeinem schnarchenden Mann neben sich. Meist aber wachte sie auf dem Sofa auf, allein, neben fast leeren Flaschen und fast vollen Aschenbechern, die Haut von abgestandenem Zigarettenrauch und dem Make-up vom Vortag überzogen, mit schmerzenden Gliedern und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. 

Ruth Malone befindet sich im Gefängnis, das ist auf den ersten Seiten klar. Doch sie beschreibt zunächst einen Blick zurück und dann einen in die Realität des Spiegels und wieder zurück an die Stelle, an der alles seinen Anfang nahm. Ein heißer Tag im Sommer 1965, auf den Straßen New Yorks flimmern die Hitze. Ruth lebt allein mit ihren beiden Kindern, sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, noch sind sie nicht geschieden. Sie verbringt den Tag mit den Kindern, sie machen Ausflüge und am Abend bringt sie die Geschwister ins Bett, fängt an aufzuräumen. Ihr Mann Frank möchte das alleinige Sorgerecht erzwingen. Das Jugendamt wird bei ihr vorsprechen und ihr Anwalt hatte geraten, die Wohnung gut herzurichten. Berge an Flaschen werden weggeräumt, harte Alkoholika, Müllbeutel entsorgt. In der Nacht geht sie noch einmal kurz mit dem Hund hinaus, schaut ins Kinderzimmer, und dann geht sie selbst schlafen. Am Morgen kocht sie sich Kaffee, schminkt sich perfekt, frühstückt, keinen Gedanken an die Kinder, und irgendwann gegen zehn bemerkt sie, das Kinderzimmer ist leer, die Geschwister sind verschwunden. Panik ergreift Ruth, sie ruft Frank an und der informiert die Polizei. Eine Suchaktion beginnt. Am nächsten Morgen wird zuerst das Mädchen tot aufgefunden und die nächsten Tage auch der Junge. 


Keine Träne, kein Aufschrei am Tatort

… und sie sich davon überzeugen konnte, dass die Farbstreifen gleichmäßig waren. In Ordnung. Sie blinzelte, griff zum Kajalstift und nahm die Augen in Angriff. Zuerst die Brauen: hoch aufragende, erstaunt blickende Bögen, die ihre lang gezogenen Augen einrahmten. Lidschatten, flüssiger Eyeliner, drei Schichten Mascara. Sie arbeitete wie eine Malerin – sie mischte, verstärkte und verwischte Farben.


Natürlich geraten auch die Eltern unter Mordverdacht. Wie konnten die Kinder in der Nacht aus der verschlossenen Wohnung verschwinden? Die Polizei observiert nun die Eltern, besonders Ruth, protokolliert haargenau. Was ist das für eine Frau, die aufgestylt zuerst mit ihrem Mann zu einem Modegeschäft fährt, bevor sie ihre ermordete Tochter am Tatort identifizieren soll? Keine Träne, kein Aufschrei am Tatort. Eine Frau, die abends in Bars arbeitet, ständig Männer mit nach Hause nimmt, eine, die raucht wie ein Schlot, harte Alkoholika säuft, die aufreizend gekleidet ist, mit ihrem einladenden Augenaufschlag die Männer verrückt macht – ist das eine gute Mutter? Oder standen ihr die Kinder bei ihrem ausschweifenden Leben im Weg?


Ist Ruth unschuldig?

Sie zog die Sachen vom Vortag aus und wusch sich an dem winzigen Waschbecken: Hände, Gesicht, unter den Achseln, unter den Brüsten, zwischen den Beinen. Manchmal roch sie sich selbst – diese strenge, gelbe Ausdünstung, die sie bis heute für ihren ganz speziellen Geruch hielt und für die sie sich schämte, wenn sie morgens neben jemand anderem aufwachte.

Spitz wie eine läufige Hündin, man riecht’s, Baby.


Der Boulevardreporter Pete Wonicke ist fasziniert von der Femme fatal, für ihn ist dieser Kindesmord die Möglichkeit, sich als Journalist endlich zu etablieren. Er recherchiert im Umfeld von Ruth, und er ist überzeugt, dass Ruth unschuldig ist. Je mehr er über sie erfährt, umso mehr verstrickt er sich persönlich in den Fall, kündigt seinen Job – auch er ist Ruth verfallen, wie manch anderer Zeitgenosse. 


Würde ein ähnlicher Fall heute nicht in gleiche Denkmuster verfallen

Der Thriller zeichnet das Gesellschaftsbild der 60er Jahre der USA, ist an einem authentischen Fall orientiert. Multiperspektive wechseln wir von Ruth zu Reporter Pete und Sergeant Devlin, der in dem Fall ermittelt. Eine Frau die säuft, sich aufreizend kleidet und Männer vernascht, ihren Mann vor die Tür setzt, einen hart arbeitenden Mechaniker, das ist eine Schlampe. In der bürgerlichen Mitte des Quartiers ist sie eine Außenseiterin: Neidische Blicke der Frauen auf ihre Kleidung, ihre Frisur, Make-up, ihre elegante Bewegung, eine, die eben alle Männer verrückt macht. Eine, die macht, was sie will! Die Männer können ja nichts dazu, wenn sie fremdgehen, werden ja direkt eingeladen. Ist das wirklich nur das Gesellschaftsbild von damals?, fragt man sich? Würde ein ähnlicher Fall heute nicht in gleiche Denkmuster verfallen, befeuert von den Medien? Die Polizei hat sich an Ruth verhakt, bewacht sie Tag und Nacht. Wer sonst soll die Kinder umgebracht haben? Hier wird einseitig ermittelt mit allen Raffinessen, alle anderen Spuren werden liegengelassen, Ruth wird förmlich psychisch in die Mangel genommen.


Fragen nach Mutterschaft und Moral, die Bedeutung, eine gute Mutter zu sein

Pete Wonicke ermittelt auf eigene Faust, total von Ruth besessen. Wie rosarot ist seine Brille? Sergeant Devlin kennt Ruth gut, aber er steht unter gesellschaftlichem Druck, den Fall zu lösen. Man kann Ruth nichts nachweisen, sie ist auch zu intelligent, um im in die Falle zu tappen. Wer ist Ruth? Warum ist sie so sehr auf ihr Aussehen bedacht? Warum trennte sie sich von Frank und was waren ihre Träume vom Leben, warum pfeift sie auf Konvention? Immer tiefer dringt der Leser in ihre Gedanken ein. Ein fein geschriebener Roman, der an diesem Fall aufwickelt, wie sehr der erste Schein trügen kann, und er beschäftigt sich mit den Fragen nach Mutterschaft und Moral, der Bedeutung, eine gute Mutter zu sein. Psychologisch durchdacht nimmt uns Emma Flint mit in der Geschichte, prüft unsere eigenen Moralvorstellungen, Vorurteile. Das hat sie geschickt gemacht. Die Mehrperspektivität deckt verschiedene Seiten von Ruth auf – ihre Selbstsicherheit, ihre überschminkte Verletzlichkeit, ihre weggesoffene Traurigkeit. Der / die Täter*in wird in letzter Minute offenbart. Ich muss allerdings sagen, fast hätte ich das Hörbuch zurückgegeben. Glücklicherweise habe ich ihm noch eine Chance gegeben. Es lag an einer Stimme. Shandra Schadt liest mit Piepsstimme, die mir so gar nicht lag. Und wenn sie die Passagen von Ruth’s Tochter las, musste ich weiterspulen. Das klang wie Micky-Mouse. Ich dachte schon, die Tonspur läuft zu schnell, verlangsamen half auch nichts. Glücklicherweise hat das Mädchen nur wenige Stellen und den größeren Teil spricht Hans Jürgen Stockerl. Das ist alles Geschmack! Wer das gleiche Problem hat: Dranbleiben, es wird besser – oder das Buch lesen, der Roman lohnt sich!


Emma Flint wurde in Newcastle upon Tyne im Nordosten Englands geboren. Sie studierte Englisch und Geschichte an der University of St Andrews und ist Absolventin des Schreibprogramms der Faber Academy in London. Seit ihrer Kindheit liest Flint Berichte über reale Verbrechen und entwickelte über die Jahre ein enzyklopädisches Wissen über Mordfälle und berüchtigte historische Persönlichkeiten sowie eine Faszination für unkonventionelle Frauen – vergangene, gegenwärtige und fiktive. Flint lebt und arbeitet in London.


Emma Flint 
In der Hitze eines Sommers
Originaltitel : Little Deaths
Übersetzt von: Susanne Keller
Sprecher: Hans Jürgen Stockerl, Shandra Schadt
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 13 Std. und 14 Min.
Audible Studios, 2020
Thriller, Krimi, Gesellschaftsroman, englische Literatur
Klappenbroschur, 416 Seiten
Piper Verlag, 2020

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim