Direkt zum Hauptbereich

Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Imperium der Schmerzen 


von Patrick Radden Keefe

Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöste
Gesprochen von: Julian Mehne
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 46 Min.



Arthur hatte entdeckt, dass unter seinen vielen Talenten er eines am besten beherrschte: Leuten was verkaufen.

Fast 22 Stunden Hörbuch als erzählendes Sachbuch – und es wurde nie langweilig! Das große, verstörende Porträt der Sackler-Familie, die sich als Philanthropen feiern lassen, deren Vermögen durch Valium entstand und die mit der Erfindung des Medikaments OxyContin die Opioidkrise in den USA auslöste. Über vier Generationen behaupteten sie, sie hätten mit ihren Firmen nichts zu tun, hielten ihren Namen heraus; doch hinter den Türen zogen sie die Fäden; Manager, die etwas verändern wollten, mussten gehen. Und Millionen Menschen stürzten weltweit in die Abhängigkeit mit Oxy. Wer sich das Medikament nicht mehr leisten konnte, stieg auf Heroin um, was ja so ziemlich das Gleiche war. Die Sacklers behaupteten, wer abhängig sei, habe das Medikament eigenständig überdosiert – das war von Anfang an gelogen, und sie wussten das seit der Einführung des Medikaments. 


Die ersten Millionen mit Valium


Süchtige sind süchtig, weil sie süchtig sein wollen.


Patrick Radden Keefe zeichnet das Sittengemälde einer Industriellenfamilie, die die Welt prägte. Durch überdimensioniertes, aggressives Marketing ihrer Pharmafirma Purdue machten sie Ärzte zu Dealern und sackten selbst Milliarden ein. Alles beginnt mit Sarah Greenberg und Isaac Sackler, zwei jüdischen Migranten, die aus Polen und Galizien in die USA eingewandert waren und in NY Brooklyn landeten. Sie wollen, dass aus den Kindern Arthur, Mortimer und Raymond etwas wird, bestärken sie zu Fleiß. Alle drei Söhne studieren Medizin, arbeiten an renommierten Kliniken, gründen eigene Firmen und werden reich mit der Entwicklung von Valium. Der strebsame Sohn Arthur, entpuppt sich zum Marketing-Genie für medizinische Produkte, umschifft Gesetze, lügt, was das Zeug hält, moralische Bedenken hat er nie. Über eine eigene medizinische Fachzeitschrift, die sich den seriösen Anstrich des unabhängigen Journalismus gibt, kurbelte er durch Falschbehauptungen Märkte an. Das beginnt in den Sechzigern mit der Bewerbung für Valium, bei der er die Suchtgefahr verschweigt. Als herauskommt, dass Valium abhängig macht, kaufen sie die Pharmafirma Purdue, geben OxyContin heraus, was angeblich suchtfrei sei – letztendlich ist es Valium in doppelter Dosis. Gewissenlos und ruhmessüchtig wird das Schmerzmittel vertrieben. Der Name Sackler wird aus den pharmazeutischen Firmen stets herausgehalten, der Gewinn in Kunst investiert, ebenso in Bildung. Arthur sammelt leidenschaftlich, spendet für Museen, für Universitäten usw. Der Name Sackler pflastert sich durch das ganze Land, sogar bis nach England; ganze Museumsflügel werden in Sackler-Flügel umbenannt. An den UNI’s erhält man Sackler-Stipendien und Sackler-Professuren, Sackler-Hörsäle. Sackler, der Philanthrop, der edle Spender. 



Der Rubel rollt weiter, obwohl die Suchtgefahr bekannt wird


Ich sage das nur ungern, aber du könntest der Pablo Escobar des neuen Jahrtausends werden.


Das bleibt ein Familienhobby; aber als Arthur stirbt, wird sein Zweig der Familie im Erbe ausgebootet. Ab 1987 steigt Richard Sackler, Arthurs Neffe und Raymonds Sohn voll ins Geschäft ein mit OxyContin. Beste Vernetzung und Lobbyarbeit, Bestechung von Behörden, teure, durchtriebene Anwälte, ein knallhartes Marketing, Manipulation, Umsatzbeteiligung für Ärzte, eine große Flotte von ungebildeten Pharmaberatern machen es möglich, dass diese Familie immer mehr Geld einstreicht. Letztendlich ist Arthur Sacker sozusagen auch der Erfinder der Werbung für Medikamente und der Pharmaberater. Die Werbung lügt dreist sämtliche Suchtgefahr weg – behauptet sogar das Gegenteil. Auch wenn immer mehr Patienten klagen, süchtig geworden zu sein, sterben, so wird bei den Sacklers jedes Mitverschulden abgestritten. Prozesse werden im Vorfeld mit Geld und Verschwiegenheitsvereinbarungen beseitigt, und finden dann doch Prozesse statt, führen windige Anwälte die Staatsanwälte, Ermittler und Journalisten an der Nase herum. Schadenersatzzahlungen laufen unter Peanuts. 


Nie etwas zugeben, leugnen bis zum bitteren Ende

Etwa 450.000 Amerikaner:innen starben durch OxyContin. Doch die Sacklers scheffelen weiter Milliarden, während sogenannte Drogendealer wegen kleiner Vergehen lange Strafen im Gefängnis absitzen müssen. Man kennt den Namen Sackler, eine Familie von Philanthropen, aber mit Oxy wurde er nie in Verbindung gebracht. Journalisten und Aktivisten, ehemalige Abhängige, darunter berühmte Künstler, brachten langsam Licht ins Dunkel mit ihren Aktionen. Staatsanwälte, die nicht locker ließen, bissen sich weiter durch und der Name Sackler wurde langsam verpönt, die Schilder in Museen und Universitäten abgeschraubt. Das war letztendlich auch schon alles. Die Geschichte der Sackler-Dynastie birst vor Dramen - barocke Privatleben, erbitterte Verteilungsschlachten, machiavellistische Manöver in Gerichtssälen und der kalkulierte Einsatz von Geld, um sich als Kunstmäzene Zugang zur Elite zu kaufen und die weniger Mächtigen zu brechen. Ein verflochtenes Firmengeflecht, immer darauf bedacht, keine Steuern zu zahlen, ein Rudel der besten Anwälte in der Hinterhand. Eine Einwandererfamilie, die zu den Elitefamilien dazugehören wollte, von den alten New Yorker Familien aber nie richtig anerkannt wurden, denn als Juden empfing man sie nicht mit offenen Armen. Man kaufte sich ein, plakatierte alles philanthropisch mit dem Namen Sackler, denn zum US-Geldadel gehörte man unumstoßen dazu. Patrick Radden Keefe beschreibt als erzählendes Sachbuch ein detailliertes dynastisches Portrait der Sacklers, spannend wie einen Thriller. Und es erschüttert, was in diesem Rechtssystem alles möglich ist. Es ist ja nicht irgendeine Familie, die hier Geschichte schreibt, denn sie beschreibt auch pharmazeutische Geschichte, Medizingeschichte und die einer Drogenkrise in den USA. Nie wurde ein Mitglied des Sackler-Clans persönlich zur Rechenschaft gezogen, nur Strohmänner mussten herhalten. Merke: Nie etwas zugeben, leugnen bis zum bitteren Ende. Wer genug Geld hat, sich trickreich vertreten zu lassen, bekommt scheinbar in den USA immer Recht. Interessant, auch, OxyContin wollten die Sacklers in Deutschland gern zulassen. Man riet ab. Wenn es hier Probleme gibt, und die wird es geben, dann fällt das gesamte Kartenhaus zusammen. Es gibt einige Bücher über OxyContin und die Opioidkrise in den USA, auch Filme, doch dies ist das erste Buch, das sich direkt mit der Familie Sackler beschäftigt. Ein historischer Roman, ein Familienroman, ein erzählendes Sachbuch, eigentlich sogar eine True-Crime-Story, auf jeden Fall eine Empfehlung! 



Patrick Radden Keefe, geboren 1976, studierte an der Columbia University, der Yale Law School, der Cambridge University und der London School of Economics. Keefe ist investigativer Reporter des "New Yorker".



Patrick Radden Keefe
Imperium der Schmerzen
Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöste
Gesprochen von: Julian Mehne
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 46 Min.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Gregor Runge, Katrin Stier, Benjamin Dittmann-Bieber
Historischer Roman, erzählendes Sachbuch, OxyContin, True-Crime-Story, Sackler Familie, Familienroman
Argon Verlag, Audible, 2022
Hanserblau Verlag, 2022, 640 Seiten



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane

Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim