Direkt zum Hauptbereich

Im Untergrund von Patrizia Schlosser - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Im Untergrund 


von Patrizia Schlosser

Der Arsch von Franz Josef Strauß, die RAF, mein Vater und ich


Auf der Suche nach den letzten RAF-Terroristen. Wie Phantome tauchen die letzten drei aktiven Mitglieder der RAF immer wieder auf, um bewaffnet mit Panzerfaust und Schnellfeuergewehren Supermärkte und Geldtransporter zu überfallen. Wer sind die drei? Wie überleben sie ‹im Untergrund›? Und gehören sie überhaupt wirklich zur RAF? Gemeinsam mit ihrem Vater, einem grantelnden bayerischen Polizisten in Rente, macht sich Patrizia Schlosser auf die Suche nach ihnen. Sie trifft Anwälte und Ermittler, ehemalige Weggefährten und RAF-Mitglieder und erhält so Einblick in eine verschwiegene Szene.   (Klappentext)


Spannend, dachte ich, ein Thema meiner Jugend – viel darüber gelesen, Filme geschaut – miterlebt, was der Terrorismus aus einer Gesellschaft machte. Die Straßen um unsere Schule abgesperrt, als der Hubschrauber Ulrike Meinhof gegenüber ins LKA Hannover einfliegt, auf dem Dach landet. Unten, vor dem Eingang stand eine ganze Garnison Bewaffneter Wache. In die Pause durften wir nicht, hingen gaffend an den Fenstern. Zweite Generation: Zweimal an der Hauswand in der Innenstadt gestanden, durchsucht worden, da ganz weit entfernt irgendein Fahndungsfoto mit mir Ähnlichkeit besäße. Bis heute ist mir nicht klar, welches das sein soll. Und immer wieder Kontrollen auf der Autobahn, die MG durchs geöffnete Fenster auf uns Sportler drinnen im Wagen gerichtet; jetzt bloß nicht bewegen, schön die Hände oben behalten – die Polizisten draußen vorm Auto hatten wahrscheinlich mehr Angst als wir. Ich glaube, unsere Erlebnisse in dieser Zeit waren spannender als dieses Buch. Eine Journalistin forscht, ob drei der damals entwischen Terroristen, heute als Geldtransporterräuber agieren. Sie fährt quer durch die Bundesrepublik, einmal fliegt sie sogar in den Nahen Osten, oft begleitet der Vater sie. Der Vater ist pensionierter Polizist, war damals beim Olympia-Anschlag als Polizist eingesetzt. Zwischen die Recherche von heute sind in kurzen Abschnitten die Ereignisse von damals eingeflochten.


Naive Vorgehensweise

Wie willst du die denn suchen? Die Polizei findet sie ja auch nicht. Meinst du, du bist schlauer als die Polizei?›

‹Ich will sie ja nicht festnehmen, sondern mit ihnen sprechen.


Ich frage mich, wozu schreibt einer ein Sachbuch, wenn am Ende nichts herauskommt. Natürlich, das passiert Journalisten. Sie sind hinter einer Story her, und am Ende gibt es nur heiße Luft. Misserfolge gehören zu jedem Beruf. Aber muss man darüber ein Buch schreiben? Man kann der Autorin zugutehalten, dass hier eine Vater-Tochter Beziehung entstanden ist. Eine Annäherung zwischen politischen Idealen. Alles das, was sie uns von damals erzählt, gibt ausführlicher in Buch- und Filmformat, aus allerlei Sichten. Besser erzählt, besser recherchiert. Ich fragte mich von Anfang an, was Ziel der Reportage war? Diese Leute finden und sie interviewen, mal fragen, wie es ihnen heute so geht im Untergrund, wie ihr tägliches Leben aussieht, ob sie die Überfälle gemacht haben und wofür sie die Kohle benötigen? Eine ziemlich naive Vorstellung, so schien es mir. Niemand der alten Szene will mit Frau Schlosser reden und wenn es dann doch einer macht, gibt es Infos, wie z.B. jemand mal einem anderen einen kleinen weißen keinen Plastikelefanten schenkte. Aus Solidarität. Außer Kaffee und Keksen nichts erreicht. Wenn überhaupt. 


Vater und Tochter nähern sich an

Pass auf!›, ruft mir mein Vater hinterher.

‹Ja, ja.›

‹Wenn was ist, dann schreist!› ...

Halb versteckt unter Bäumen steht links vor mir ein verwitterter Wohnwagenanhänger und rechts ein kleines Auto. Über allem liegt eine Schicht vergangener Zeit: schmierige Schmutzpartikel und getrocknetes Laub. Kein Laut ist zu hören. Hinter dem Auto sehe ich ein Holzhäuschen, genauer, die dunkelbraune Rückseite davon. Scheint verlassen zu sein, denke ich gerade, das sehe ich Rauch aus dem Schornstein der Hütte aufsteigen.  (Die spannendste Stelle im Buch)


Interessant ist die Beziehung zwischen Vater und Tochter, die anfangs ein wenig gespalten ist über die politische Meinung. Im Laufe der gemeinsamen Aktion kommen sie sich näher, entwickeln Verständnis für die gegenseitigen Positionen – die manchmal gar nicht so weit auseinanderliegt, wie sie vorher dachten. Der Vater, als Polizist, war früher in der Fahndung dabei, auch für den Dienst eingeteilt, um den Olympia-Anschlag herum. 


Der Arsch von Franz Josef Strauß - aber sonst nichts Neues

Die Terroristen haben zurückgeschossen und dabei auf den Tower gezielt. Die Glasdecke ist geborsten und die Splitter sind auf uns runtergeregnet. Alle sind übereinandergelegen. Alle Leute am Boden … 

Und als das Glas runtergesplittert ist, hab ich bloß einen riesen Arsch g’sehen, und das war dem Strauß sein Arsch. Der ist auf Händen und Füßen die Treppe runtergekrochen. Vom Tower runter. Das Bild werd ich nicht vergessen, wie dieser riesen Arsch verschwunden ist.


Eine schöne Szene, so ziemlich das Einzige, was man vorher nichts wissen konnte. Wer etwas über die RAF erfahren will, kommt hier nicht weiter, die Infos geben lediglich einen oberflächlichen Eindruck wieder. Zu diesem Thema gibt es eine Menge besserer Literatur. Wer lesen möchte, wie man planlos, ziellos recherchiert, der liegt hier richtig. Letztendlich hat sich Patrizia Schlosser an der linken Nase herumführen lassen. Ich gehe davon aus, diese Szene hat genau gewusst, mit wem sie spricht, worüber. Soweit man überhaupt mit ihr geredet hat, so doch nur, um abzuchecken, was sie vorhat und was sie weiß. Am Ende vom Buch sind wir genauso schlau wie vorher: Bis auf die Pointe mit Franz Josefs A... nichts Neues – und das reißerisch auf dem Titel zu erwähnen, ist nun wirklich kein guter Journalismus – die Frage, ob die Geldtransporterräuber ehemalige Mitglieder der 3. RAF-Generation sind, kann nicht beantwortet werden. Der «Einblick in eine verschwiegene Szene» zeigt lediglich, wie verschwiegen sie ist. Braucht es dafür ein Buch? Schon gar nicht gibt es am Ende ein nettes Interview über das Leben im Untergrund – was ja Ziel der Operation war.


Patrizia Schlosser 
Im Untergrund 
Der Arsch von Franz Josef Strauß, die RAF, mein Vater und ich 
Sachbuch, Reportage, Terrorismus RAF
Klappenbroschur, 256 Seiten
Verlag Hoffmann und Campe, 2019


Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck