Direkt zum Hauptbereich

Für immer die Alpen von Benjamin Quaderer - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Für immer die Alpen 


von Benjamin Quaderer


Der Anfang: Mein Name ist Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört. Ich bin 54 Jahre alt, von Sternzeichen Widder und lebe unter neuer Identität an einem Ort, von dem ich zu meinem eigenen Schutz nicht erzählen darf. Sagen kann ich nur so viel: Es gibt hier Wolken und Bäume, Gras gibt es und Tiere, die das Gras fressen. Fließend Wasser und Strom existieren hier genauso, wie die Sonne es tut. Man lebt hier in Häusern. Häusern mit Dächern und Fenstern, mit Balkonen oder Veranden.

Er ist Staatsfeind Nummer 1 im kleinsten Staat der Erde, im Fürstentum Liechtenstein. Johann Kaiser, Sohn eines Fotografen und einer Spanierin, Weltenbummler, Meister der Manipulation. Er lebt heut unter falschem Namen an einem unbekannten Ort. Er verkaufte gestohlene Kundendaten einer großen Bank an den deutschen Staat. Ein Schelmenroman, die Lebensbeichte eines Hochstaplers – und so völlig anders geschrieben als alles was man kennt. Hochgelobt von vielen Lesern. Humorvoll, streckenweise spannend konnte mich das Buch nie so richtig packen, so chaotisch und verschachtelt, wie das es aufgebaut ist. Nicht schlecht, beileibe nicht, aber unter die Haut ging mir dieser Roman nicht.

Schon seine Schwestern versuchten ihn mit einem Kissen zu ersticken

Die Stimmen überschlugen sich in der Küche. Ich schlich mich näher heran, um Mamá zu unterstützen, doch sie schlug die Tür vor mir zu. Sämtliche Geräusche wurden dumpf, als befände ich mich unter Wasser. Wenn ich gewusst hätte, dass das die letzte Gelegenheit sein würde, um Mamás Stimme zu hören, wäre ich nicht in mein Zimmer gegangen. Doch weil ich es nicht wusste, legte ich mich auf mein Bett und begann mit geschlossenen Augen bis dreißig zu zählen. Als ich die Sechsundzwanzig erreichte, schlief ich ein.
Kaiser beginnt mit seiner Geburt, seine Schwestern (Zwillinge) versuchen ihn früh, mit einem Kissen zu ersticken. Die Mutter macht sich von dannen, was Kaiser nie verwinden wird, die Geschwister landen im Kinderheim. Schon früh entdeckt ihn Fürstin Gina beim Marmeladenkauf und hält ihre schützende Hand über den Jungen. Auch ihren Tod wird er später nie verarbeiten können. Weil er Sehnsucht nach der Mutter hat, haut er mit einem geklauten Moped ab nach Spanien, sucht sie in einem Kloster, findet sich nicht, doch mit Hilfe der Nonnen schmuggelt er sich als «Hilty»-Sohn in ein Elite-Internat ein, freundet sich mit den reichen Tobler-Kindern an. Aber wer nicht über den Standard an Kleidung, Kleingeld und gute Manieren verfügt, der fliegt schnell auf. Zurück geht es nach Lichtenstein, wo Kaiser über Umwege ein erfolgreicher Banker wird. Das Fernweh liegt ihm im Blut. Der Roman ist in vierzehn Bücher, einer Einleitung und einem letzten Buch aufgeteilt (1962-2020 ). Jedes Kapitel hat seinen eigenen Stil und auch die Perspektive ist wechselhaft. Erzählform, es gibt protokollarische Kapitel zu realen und fiktiven Quellen, bei denen die Namen geschwärzt sind, Seiten rot gedruckt (Gegenüberstellungen verschiedener Protagonisten), E-Mail-Unterhaltungen eines Kriminalpsychologen mit diversen Zeugen, der einen eigenen Handlungsstrang erhält und Kaiser liest ein Buch über sich selbst. Durchgehend gibt es 222 Fußnoten, die sich zum Teil über mehrere Seiten erstrecken. Von daher würde ich auf keinen Fall das Ebook empfehlen! Denn hier sind Fußnoten immer ans Ende gesetzt. Es existiert auch eine Hörbuchform – die sicher nicht einfach in der Umsetzung war. Auch hier wäre ich vorsichtig.

Der Datendieb

Die oben erwähnte Familie Tobler zieht Kaiser mit einem Immobiliendeal über den Tisch. Erbost entführen sie Kaiser in Argentinien und foltern ihn. Zurück in Liechtenstein wird er Treuhänder der fürstlichen Stiftungsbank. Deren Ziel ist es, das Vermögen reicher Ausländer zu kaschieren, so dass sie nach außen nicht mehr sichtbar sind. Kaiser ist für die Digitalisierung der Kundendaten zuständig, die versteckt gelagert werden, die Papierdokumente werden geschreddert. Hier fließt der reale Fall Heinrich Kiebers (sein Buch: «Der Fürst. Der Dieb. Die Daten») ein, der deutsche Steuerhinterzieher den Ministerien in Deutschland auslieferte, entwendete Kundendaten, auf mehrere DVDs gepresst, für die er 4,6 Millionen Euro erhielt. Kieber wurde damals von den deutschen Behörden einer neuen Identität ausgestattet. Auch Kieber war Waisenkind und auch er hatte Fürst Adam versucht zu erpressen, weil er sich wegen eines Immobiliendeals ungerecht behandelt fühlte.

Der Roman ging mir nicht unter die Haut

Glaubt man diesem Erzähler, diesem stolzierenden Hahn, irgendetwas? Natürlich nicht, nur schemenhaft. Schwarze Satire und dauerhafte Heiterkeit spricht aus der Sprache und Heimatliebe. Kaiser packt zwar das Fernweh, aber in die Heimat zieht es ihn immer wieder zurück: Für immer die Alpen. An diesen Stellen ist das Buch stark. Die wirklich interessante Sache, der Datendiebstahl kommt mir zu protokollarisch herüber, dieser ständige Stilwechsel hat mich nicht wirklich beeindruckt. Durch das hin und her kommt man als Leser dem Protagonisten nie zu nah, sieht ihn eben nur als den unsympathischen Aufschneider. Nach 592 Seiten war ich endlich am Ende angelangt.


Benjamin Quaderer, geboren 1989 in Feldkirch, Österreich, und aufgewachsen in Liechtenstein, studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim und in Wien. Er war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift „BELLA triste“ und Teil der künstlerischen Leitung von „PROSANOVA 2014 – Festival für junge Literatur“. „Für immer die Alpen“ ist sein erster Roman. Für einen Auszug daraus erhielt er den 2. Preis beim Open Mike 2016 und ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats.


Benjamin Quaderer
Für immer die Alpen
Roman, Schelmenroman
Luchterhand, 2020
Hardcover, 592 Seiten

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck