Direkt zum Hauptbereich

Einmal in Sizilien von Leonardo Sciascia - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Einmal in Sizilien 


von Leonardo Sciascia


Er pfändete den Bürgern nicht nur die notwendigen Mittel und Werkzeuge für ihren Lebensunterhalt, sondern auch die Kleidung vom Leibe weg, die Decken, selbst die Bettgestelle, Mäntel und Umhänge, bis hin zu den Mützen der Kinder.


Wer Sizilien kennenlernen möchte, wer seinen Zauber ebenso wie seine dunkle Geschichte verstehen will, muss Leonardo Sciascia (ausgesprochen «Schascha») lesen, den man das literarische Gewissen Siziliens nennt. Zum 100. Geburtstag des bekanntesten und wichtigsten Autors der Insel muss man an ihn erinnern, denn er verbindet seine Liebe, wie ebenso die kritische Betrachtung von Land und Leuten in seinen Romanen, die auf Sizilien spielen: brutale Gutsherren, Standespersonen, die sich immer wieder neue Abgaben einfallen lassen, um die Bauern auszupressen, über ausgebeutete Arbeiter in den Schwefel- und Salzminen, über den habgierigen Adel, die Armut von Kindern, die um die Schulspeisung betteln, über den Faschismus und den Einfluss der Mafia.


Regalpetra, ein Ort auf Sizilien, der für jeden anderen stehen könnte

In dieser Novelle erzählt Leonardo Sciascia über den fiktiven Ort Regalpetra, der für jeden Ort auf Sizilien stehen könnte. Als Dorfchronik gestaltet, beschreibt er das Geflecht der Gutsherren, den Einfluss der Mafia, den Einzug des Faschismus und die Begeisterung des jugendlichen Erzählers für Mussolini und den Krieg. Bald aber begreift der junge Mann die Strukturen und wendet sich ab. Er wird später Volksschullehrer und hat es nicht einfach mit seinen Schülern, die Bildung nicht für wichtig halten, schon gar nicht mit den Vorschriften aus Rom.


Der Willkür der Herrschenden ausgesetzt

Dem Anwalt hatten sie Schafe gestohlen, sie hatten den Hirten an einen Baum gebunden. ... Der Anwalt sprach mit jedem, den er in der Stadt traf darüber. Der sagte zu ihm: ‹Warum wenden Sie sich nicht an Gaspare Lo Pinto?› Der Anwalt antwortete: ‹Ich habe mich an die Carabinieri gewandt.› Darauf der andere: ‹Gaspare ist in solchen Fällen besser als die Carabinieri‘.› ... ‹sagen Sie ihm, sie wären bereit, fünfundzwanzig-, fünfzigtausend zu zahlen und sie werden sehen, Sie kriegen die Schafe wieder.


Großgrundbesitzer und Magistrat sind kreativ im Erfinden von Abgaben und Steuern. Neben den üblichen Steueren gibt es welche auf Getreide und Most, auf Obst- und Gemüsegärten, Monopolsteuer, Magazinsteuer, Ölsteuer, Wagensteuer, Schlacht- und Abdecksteuer. Die Bauern zahlen die üblichen harten Abgaben an den Gutsherren, aber dem nicht genug, erfinden diese zusätzlich den «terragggio» und den «terragggiolo». Selbst als Rom diese erweiterten Abgaben verbietet, kommen die Bauern nicht zu ihrem Recht. Die Obrigkeit vor Ort schert sich nicht darum, was in den Gesetzen des Landes steht. Wer sich als einfacher Mensch beschwert, vor Gericht geht, weil z. B. der Grundstein von seinem Land versetzt wurde, kann sicher sein, dass er es ist, der letztendlich bestraft wird, denn gegen die Mächtigen kann man nur verlieren. Dem Anwalt werden die Schafe gestohlen, die zweihunderttausend Lire wert sind. Und man muss ihm erklären, dass man den Dieb garantiert nicht finden wird – aber der Bürgermeister könnte helfen, die Schafe wiederzufinden, gegen einen Finderlohn. Man muss sich gut stellen mit diesem Mann – Mafiastrukturen. Hier wird gelogen und gefälscht, was das Zeug hält. Gegen den König kann man nichts sagen, auch nicht gegen Mussolini, so die Meinung der Menschen, denn «über dem König steht der Vizekönig» – und der ist vor Ort. Woher soll der König wissen, was in Regalpetra vor sich geht? Rom ist weit entfernt.


Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Siziliens bilden den Mittelpunkt seiner Werke

Mit zehn Jahren werden sie schon in Stellung gegeben, damit sind es zu Hause weniger Münder, die Herrschaften geben ihnen zu essen und dazu noch ein paar abgelegte Kleidungsstücke. ... Man redet von ihnen wie von Tieren und nimmt lieber Jungen in Dienst als Mädchen, ja als ob von Katzen die Rede wäre, zieht man die Kater vor; bei den Weibchen gibt es Scherereien mit dem Jungekriegen ...


Die schnörkellose Beschreibung der Geschichts- und Gegenwartsperspektive in Verbindng offenbaren das Gesellschaftsbild einer armen, ausgebeuteten Mehrheit, die aus der Erfahrung der eigenen Geschichte der Obrigkeit nicht trauen kann – mit Recht; sich gegen sie auflehnt, so weit wie möglich. Das Land, in dem die Zitronen blühen, das Goethe beschreibt, ist die eine Seite – das Leid der Menschen in einer geknechteten Gesellschaft die andere. Sprachgewaltig in Liebe zum Land und den einfachen Menschen bringt der Autor es immer wieder auf den Punkt. Leonardo Sciascia selbst stammt aus armen Verhältnissen, und die faschistische Vergangenheit hat sein Leben ebenso geprägt wie die Machenschaften der Mafia. Bevor er zu schreiben begann, war er als Volksschullehrer tätig. Insofern hat dieses Buch sicher starke autobiografische Züge. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Siziliens bilden den Mittelpunkt seiner Werke. Bereits 1953 gewinnt er den «Pirandello-Preis» für sein Essay «Pirandello und der Pirandellismus». 1975 wird er als unabhängiger Kandidat über die Liste der PCI in den Stadtrat von Palermo gewählt. Von 1979 bis 1983 war er Abgeordneter für die Partito Radicale, Mitglied des Europäischen und des italienischen Parlaments.


Leonardo Sciascia wurde 1921 in Racalmuto auf Sizilien geboren. Schon während seiner langjährigen Tätigkeit als Volksschullehrer arbeitete er nebenbei als Schriftsteller und Journalist. Ab 1957 widmete er sich ausschließlich dem Schreiben. Sciascia verfasste zahlreiche Kriminalromane, Erzählungen, Essays und auch Gedichte. Er starb 1989 in Palermo. Weltberühmt sind seine kurzen Kriminalromane: «Der Tag der Eule», «Tote auf Bestellung», «Tote Richter reden nicht» und «Der Abbé als Fälscher», «Jedem das Seine»;  viele seiner Romane wurden verfilmt. In «Die Affäre Moro» setzt er sich mit der Entführung und Ermordung des Präsidenten Aldo Moro auseinander.


Die wichtigsten Werke:

  • Le parrocchie di Regalpetra (Salz, Messer und Brot), 1956/57
  • Gli zii di Sicilia (Sizilianische Verwandtschaft), 1958
  • Il giorno della civetta (Der Tag der Eule), 1961
  • Il consiglio d'Egitto (Der Abbé als Fälscher), 1963
  • A ciascuno il suo (Tote auf Bestellung), 1966
  • Il contesto (Der Zusammenhang/Tote Richter reden nicht), 1971
  • Il mare color del vino (Das weinfarbene Meer), 1973
  • La scomparsa di Majorana (Das Verschwinden des Ettore Majorana), 1975
  • L'affare Moro (Die Affäre Moro), 1978
  • Nero su nero( Schwarz auf schwarz), 1979
  • Il teatro della memoria (Aufzug der Erinnerung), 1981
  • La sentenza memorabile, 1982
  • Cronachette, Palermo, 1983
  • Porte aperte (Man schläft bei offenen Türen), 1987
  • Il cavaliere e la morte (Der Ritter und der Tod), 1988
  • Una storia semplice, 1989

Verfilmte Werke:
  • Zwei Särge auf Bestellung (A ciascuno il suo): Regie: Elio Petri, Darsteller: Gian Maria Volonté, Irene Papas, Gabriele Ferzetti, Salvo Randone
  • Der Tag der Eule (Il giorno della civetta); Regie: Damiano Damiani, Darsteller: Claudia Cardinale, Franco Nero
  • Die Macht und ihr Preis (Cadaveri eccellenti); Regie: Francesco Rosi


Leonardo Sciascia   
Einmal in Sizilien
Novelle, Roman, Klassiker, italienische Literatur, Sizilien
Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
Wagenbach Verlag, 2021



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie

  Eine spannende Reise durch die Jahreszeiten zu Tieren und Pflanzen rund um den Globus. Das Jahr beginnt mit dem Januar – mit einem heißen Bad. In Japan baden die Japanmakaken mitten im Schnee in warmen Quellen, fühlen sich ziemlich wohl dabei. In Peru ist Paarungszeit für die Aras. Die Männchen wollen schön sein für die Damenwelt – und gehen vor der Balz für ihre Figur auf Diät: sie schlecken Schlamm. Auch in Afghanistan ist Paarungszeit mitten im Schnee für die Schneeleoparden. In der Antarktis schlüpfen Pinguine aus dem Ei. Und so geht es weiter durch das Jahr. Kleine Sachgeschichten aus der Natur ab 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie