Direkt zum Hauptbereich

Eine amerikanische Familie von Lionel Shriver - Rezension

Rezension

Sabine Ibing



Eine amerikanische Familie 


von Lionel Shriver


Der erste Satz: Nimm kein sauberes Wasser zum Händewaschen!

Im Jahr 2029 bricht in den USA der Dollar ein, und als es zum vollständigen Zusammenbruch des Wirtschafts- und Finanzsystems kommt, wird er durch eine Reservewährung ersetzt, forciert durch China und Russland. Wasser ist kostbar geworden. Florence Mandible und ihre Familie essen seit langer Zeit nur noch Kohl – selbst den können sie kaum mehr bezahlen. Wasser ist streng rationiert, Kaffee und Toilettenpapier sind Luxusartikel. Florence, die einen Masterabschluss hat, besitzt immerhin ein Haus und einen Job in einem Obdachlosenheim. Doch bald ist auch das Haus weg und die Familie sucht sich einen Platz in einem Park. Was passiert, wenn die amerikanische Wirtschaft kollabiert? Die ökonomische Apokalypse stülpt aber auch das Innerste der Menschen nach außen – man kann sich auf nichts und niemanden mehr verlassen – vertraue nur dir selbst, sonst überlebst du nicht, vielleicht noch deiner Familie, nimm dir, was du greifen kannst, und frag nicht. Eine Mittelstandsfamilie seit Generationen – und doch landen sie allesamt auf der Straße. Großvater Douglas sitzt auf seinem Geld, lässt es sich mit der dementen zweiten Frau in der luxeriösen Seniorenresidenz gut gehen beim Tennisspiel. Doch als die Regierung alle Goldreserven einzieht, Goldbesitz verboten wird, ist auch Opa ganz plötzlich pleite und fliegt samt seiner orientierungslosen Frau aus seiner schicken Residenz heraus. Früher klaute man Portemonnaies, heute überfällt man Leute wegen ihrer vollen Einkaufstüten. Eine gnadenlose Gesellschaft versucht zu überleben – das bedeutet, keine Rücksicht auf andere zu nehmen. 

Zeitsprung ins Jahr 2047

Das Einzige, was in New York City nie ausgehen würde, waren Obdachlose.

Wir springen ins Jahr 2047. Auf irgendeine Weise hat die USA den Crash überlebt. Der Preis ist die Diktatur. Die Steuern betragen 90% des Einkommens, jedem Bürger unter 68 Jahren ist Chip implantiert, der sein Bewegungsprofil millimetergenau überprüft und jede Transaktion genau überwacht und registriert. Zum Wohlfühlen ist eine soziale Absicherung für alle Bürger gewährleistet. Nevada hat sich aus den USA verabschiedet, macht sein eigenes Ding: Das freie Land bietet keinerlei Sicherheit wie ärztliche Versorgung, Rente, usw. Aber hier darf man Waffen tragen und sie auch benutzen, a la Wild West. Hier ist man frei, braucht keine Steuern zu zahlen. Wer schafft, gewinnt, wer zwischendurch umfällt, hat Pech gehabt. Trump-Land.

Die Angst der amerikanischen Seele getriggert

Ich bin Zeitungsjournalist, aber wo sind sie hin, die Zeitungen? Und Nollie: Auch mit dem erfolgreichen Romanschreiben ist es vorbei. Und du, Pop, warst ein König! Aber auf einer der Inseln, die durch das Ansteigen des Meeresspiegels auf keiner Land- oder Seekarte mehr zu finden sind. Es gibt keine Literaturagenten mehr. Selbst Dieselmotoren: Ohne eine Spur sind sie verschwunden. Alles, was wir tun, löst sich in Luft auf.

Es sind die kleinen Szenen, die das große Ganze abbilden. Die Mutter, die ewig lange für einen Viertelliter Milch ansteht, den sie nur für sich, für ihren Tee, reserviert, sparsam damit umgeht, und so der große Teil sauer wird. Und im nächsten Satz wird Bing erwähnt, der im eigenen Haus stiehlt – was unverzeihbar ist, im Gegensatz zu den gängigen Beutetouren, vor der Tür. Mit großem Sarkasmus geschrieben ist dieser Roman recht erschreckend. Ökonomische Zusammenhänge sind intelligent in die Dialoge eingeflochten, auch der Humor kommt nicht zu kurz. Eine amerikanische Familie, die zu allen Seiten mit allen Ablegern sich der Mittelschicht zuordnen rutscht in die Pleite, in die Obdachlosigkeit – unvorstellbar. Shriver schafft sozusagen den Dollar ab, kaum ein Mensch liest mehr Bücher, viele Menschen können gar nicht mehr lesen und schreiben, ein sozialistischer Latino ist als Präsident gewählt worden, asiatische Investoren kaufen das Land auf, Mexiko schließt die Grenzen, da man hier von Flüchtlingen aus den Vereinigten Staaten von Amerika droht überrannt zu werden. Die Realität völlig umgedreht. Ziemlich zynisch triggert die Autorin die verdeckten amerikanischen Ängste an: Staatsverschuldung, Inflation, China, der Abstieg der Mittelschicht und der Reichen, Angst davor, dass die weißen Männer ihre Macht verlieren, ein Wohlfahrtsstaat für die Faulen eingerichtet wird. Die Konsequenzen von Globalisierung und Nationalismus werden deutlich, eine Art Cyberkrieg geht dem ganzen Chaos voraus. Ein Roman mit Pulver, erschreckend die Vorstellung, dass diese Dystopie vorstellbar ist. Knapp 500 Seiten – ja, das Buch hat einige Längen, durch die man sich durchkämpfen muss und einige Leser werden sicherlich keinen Spaß an den Disputen zur ökonomischen Lage haben, andere Leser wird genau das reizen. Mir hat der Roman gefallen.

Währenddessen boten die Nachrichten faszinierendes Studienmaterial. Seit Monaten schon beschrieben die Moderatoren die Ereignisse mit Begriffen wie Krise, Kollaps, Katastrophe und Kalamitäten, bis ihnen die K-Wörter ausgingen. Worte wie Unheil, Debakel, Verheerung, Not, Tragödie und Leiden verloren ihre Bedeutung, sie funktionierten nicht mehr, bezeichneten Erfahrungen, die nichts besonderes waren. … Es gab keine Worte mehr für die nächste Phase, aber vielleicht suchte die CBS News dann im Understatement Zuflucht, so eine Verschwendung, unglücklich und sicher eine Enttäuschung.


Lionel Shriver, geboren 1957 in Maryland, USA, lebt mit ihrem Mann, dem Jazzmusiker Jeff Williams, in London und Brooklyn. Ihr in 25 Sprachen übersetzter Roman „Wir müssen über Kevin reden“ wurde mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Auch ihr um ein Gedankenspiel kreisender Roman „Liebespaarungen“ erhielt international höchstes Kritikerlob und stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Zuletzt erschien „Eine amerikanische Familie“. Daneben engagiert sich Lionel Shriver seit einigen Jahren verstärkt für Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Identitätspolitik.


Lionel Shriver 
Eine amerikanische Familie
Originaltitel: The Mandibles
Roman, Dystopie
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence
496 Seiten, Broschur
Piper Verlag, 2019

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris

  Wie ich mein Sternerestaurant zurückließ, in Italien Inspiration für neue Gerichte fand und mich am Ende selbst überraschte Daniel Gottschlich erhielt als erster Koch das Stipendium an der Deutschen Akademie in Rom – die bedeutendste Auszeichnung für deutsche Künstler im Ausland. Ein Koch, als Künstler? Man argumentierte mit dem von Joseph Beuys geprägtem «erweiterten Kunstbegriff», der das Kreative mit dem Künstlerischen gleichsetzt. Tage des Austauschs und der Inspiration, Stunden voller kreativer Eindrücke und künstlerischer wie musischer Erlebnisse. Im Mittelpunkt aber stand: die ausgezeichnete italienische Küche. Neben dem Reisebericht und den Eindrücken gibt es 30 Rezepte. Das erzählende Sachbuch ist eine Mischung aus Reiseliteratur und Kochbuch. Inspirierte Italienische Küche, Kulinarisches der mediterranen Küche, Lieblingsrezepte, Weltküche. Ein gelungenes Buch! Empfehlung! Rezension:   Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris...

Rezension - Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

  Eine junge Frau aus einer Anwaltskanzlei aus der Stadt und zieht auf die Bitte von ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde, zu ihm in ein Land im hohen Norden; sie kann von dort ihren Job weiter erledigen. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten bereits die jüdischen Vorfahren der Familie; es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Eine komplexe Geschichte, Sarah Bernstein ist eine feine Beobachterin, alles ist offen; ist diese Erzählerin zuverlässig? Das Gehirn des Lesenden ist in Arbeit, viel Interpretation ist an vielen Stellen offen. Klasse! Weiter zur Rezension:    Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans