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Ein anderer Takt von William Melvin Kelley - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Ein anderer Takt  


von William Melvin Kelley


Der Roman spielt in dem kleinen Dorf Sutton, nahe der Stadt New Marsails, in einem fiktiven, zwischen Alabama und Mississippi gelegenen Staat im Süden der USA. Im Juni 1957 versalzt der junge afroamerikanische Farmer Tucker Caliban seine Felder, schlachtet sein Pferd und seine Kuh, brennt sein Haus nieder und verlässt den Staat – gefolgt von dessen gesamter afroamerikanischer Bevölkerung. Es ist ein großartiges Szenario. (aus dem Vorwort)

Ein Roman aus dem Jahr 1962. Die Ne… (so wie man sie damals noch nannte – Ni… war schon damals ein Schimpfwort) haben die Nase voll. Die Konföderierten hatten den Krieg gewonnen, die Sklaverei wurde abgeschafft. Und doch gibt es keine Gleichberechtigung. Ein Ne… ist eben ein Ne… Die Geschichte beginnt mit einem Griff in die Vergangenheit, mit der Ankunft eines Sklavenschiffs, dem ein bärenstarker Afrikaner entsteigt, der mit seinen Ketten rasselt als wären sie ein Rüschenrock. Einer, vor dem alle Anwesenden Angst bekommen, der es schafft, sofort in die Sümpfe zu fliehen. Er trägt ein Baby bei sich. Es dauert Wochen und es braucht eine halbe Armee, den Mann wieder einzufangen: Tucker Calibans Urgroßvater. Tucker selbst ist klein von Statur und er ist nicht als Rebell bekannt. Er hat sich niemals aufgelehnt. Doch eines Tages packt er seine Sachen und geht fort mit seiner Familie. Ihm folgen Stück für Stück alle Farbigen aus dem Bundesstaat. »I have a dream«, fällt einem sofort dazu ein. Die Weißen sitzen auf der Veranda vor dem Lebensmittelladen, folgen dem Schauspiel, anfangs belustigt, nachher eher fassungslos: Ein Farbiger nach dem anderen kommt in die Stadt, einen Koffer in der Hand. Brav wartend an der Bushaltestelle steigen sie ein, auf geht es in die nächste größere Stadt, weiter mit dem Zug Richtung Norden.

Und sie hatten die Erklärung des Gouverneurs gelesen: ›Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir haben sie nie gewollt, wir haben sie nie gebraucht, und wir werden sehr gut ohne sie zurechtkommen; der Süden wird sehr gut ohne sie zurechtkommen. Auch wenn unsere Bevölkerungszahl um ein Drittel verringert ist, werden wir prima zurechtkommen. Es sind noch immer genug gute Männer da.

Die Perspektive aus weißer Sicht

Die Geschichte wird aus diversen Perspektiven geschildert, von ausschließlich weißen Personen. In Rückblicken lernt der Leser dabei Tucker Caliban und seine Frau kennen. Auf der Veranda meint einer der Weißen: »Gut, dass wir die von der Backe haben.« Ein anderer hat bereits etwas weiter gedacht, fragt sich, wer jetzt die Ne…-Arbeit machen wird. Der Lebensmittelhändler rechnet: ein Drittel der Kaufkraft wird ihm fehlen. Die Sicht der Weißen, denn die Sicht der Schwarzen kommt in der Literatur bis zu dieser Zeit kaum vor – insofern ein guter Schachzug von William Melvin Kelley. Bis zur Hälfte fand ich den Roman ziemlich gut. Irgendwann hat er mich ermüdet, denn die Sache dreht sich im Kreis. Natürlich gab es immer weitere Informationen zu Tucker Caliban, aber auch die wurden immer spärlicher. Immer wieder von vorn: Was ist in diesen Tagen passiert? Das Warum ist dem Leser ziemlich schnell klar: andauernde Demütigung der afroamerikanischen Gesellschaft. Der Autor findet für jede berichtende Figur einen eigenen Sound, das ist gut gelöst. Aber trotzdem bekommt der Leser schwer Zugang zu den handelnden Figuren, denn letztendlich haben wir es mit distanzierten Berichten zu tun, Erzähldistanz und Erzählhaltung beobachten von Weiten, mit Unverständnis.

Wo wollen die alle hin? Und wohlgemerkt: Nicht nur hier in Sutton sind die Ni… unterwegs – das geht die ganze Strecke nach New Marsails so. Die kommen aus dem Wald und winken, damit ich halte, und dann steigen sie ein und gehen nach hinten. Da quetschen sie sich zusammen wie die Sardinen – mit Koffern.‹ ›Hmmm.‹ Mister Harper nickte.

Am Ende fehlt etwas

Und wo wollen sie hinreisen? So viel ist klar, jeder wird seiner Wege gehen, irgendwo im Norden. Mir war das insgesamt zu wenig. Erst ganz am Ende werden die Gründe der Farbigen offen ausgesprochen. Unausgesprochen lag die Antwort die ganze Zeit im Subtext. Mich hätte interessiert, ob es den Farbigen im Norden besser geht. Sind sie dort gleichberechtigt? Was ich zu bezweifeln mag. Wie reagiert die Bevölkerung im Norden auf den gewaltigen Zuzug? Insgesamt ist dies für mich ein guter Roman, der allerdings ab der Mitte ein klein wenig hinkt, sich im Kreis dreht. Ein wenig utopisch aber vorstellbar: Stell dir vor, alle Schwarzen hauen ab! Super Idee! Was passiert dann …? Das hätte mich genauso interessiert. Für mich sogar die interessantere Frage.


William Melvin Kelley wurde 1937 in New York geboren. Mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte er seinen bis heute gefeierten Debütroman A Different Drummer. Nach mehrjährigen Aufenthalten in Paris und auf Jamaika kehrte er mit seiner Familie 1977 nach New York zurück und unterrichtete am Sarah Lawrence College Kreatives Schreiben. Für seine Romane, Kurzgeschichten, Essays und Filme wurde Kelley vielfach ausgezeichnet. Er starb 2017 in Harlem.


Ein anderer Takt   
William Melvin Kelley
Original: A Different Drummer (1962)
Roman
aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Dirk van Gunsteren
Hoffmann und Campe, fester Einband 304 Seiten, 2019

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