Direkt zum Hauptbereich

Die zitternde Welt von Tanja Paar - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Die zitternde Welt 


von Tanja Paar


Alles Weiß. Der Schnee reicht ihr über die Knie. Jetzt verstand sie, warum die Menschen hier die Gräber für ihre Toten bereits im Herbst aushoben.


Eine schöne atmosphärische Einführung gibt Tanja Paar für die Hauptprotagonistin der ersten Buchhälfte und die Welt, in der sie lebt. Eine Frau, die um 1900 allein von Wien nach Anatolien fährt, ohne genaue Adressangabe, um den Mann zu finden, der sie geschwängert hat; es zeigt von enormer Stärke und Willenskraft! Ihr Wilhelm hatte nach seinem Ingenieursabschluss klammheimlich Wien verlassen, um in der Türkei an der Bagdadbahn zu arbeiten, die Berlin mit Bagdad verbinden soll, einmal quer durch die Türkei. Maria ist in Anatolien ziemlich glücklich. Hier ist sie frei, kann tun und lassen, was sie will, anziehen, was sie will, lange Ausritte in wilde Gegenden machen, befehlen. Und sie hält sich einen Liebhaber. Hier muss sie nicht mal heiraten – was später aber nachgeholt wird. Maria hat eindeutig die Hosen an in dieser Beziehung mit Wilhelm. Nach dem ersten Kind kommen zwei weitere auf die Welt. Wir haben historisch gesehen die Zeit der Großreiche. Die Türkei, das große Osmanische Reich des Sultans: In Vorderasien beherrschten die Osmanen mit Syrien, dem Gebiet des heutigen Irak und dem Hedschas (mit den heiligen Städten Mekka und Medina) die historischen Kernlande des Islam, in Nordafrika unterstand ihnen das Gebiet von Nubien über Oberägypten westwärts bis zum mittleren Atlasgebirge der osmanischen Herrschaft. Daneben das große Reich Österreich-Ungarn, es erstreckte sich über den gesamten Balkan bis hin zu großen Teilen der Ukraine.


Das ist meine Heimat geworden.


Wilhelm folgt der Bahn und die Familie muss von Anatolien umziehen in den Süden. Doch sie kehren bald zurück, als der Erste Weltkrieg beginnt. Die Jungen Hans und Erich sind in der Türkei geboren – also Türken – und sie erhalten einen Einberufungsbefehl. Die Familie will nun fliehen, zurück nach Wien …


Bis zur Mitte fand ich das Buch spannend, absolut atmosphärisch, fein erzählt. In der zweiten Hälfte verliert mich die Autorin. Handwerklich zu bemängeln sind die schweren Zeitbrüche, in die der Leser hineingeknallt wird. Mann kann 100 Jahre überschlagen, wenn es ersichtlich ist. Hier aber hüpft man von einem Satz zum nächsten in den Zeitstrom, weiß nicht, wo man sich befindet, ist orientierungslos. Das sind harte Verortungsfehler.


Aber vielleicht war es immer eine Vision gewesen und Heimat war nichts anderes als ein bestimmter Duft oder der Geschmack von grünen Äpfeln mit harmlosen Backen.


Gut, die Protagonisten sind mir nicht sonderlich sympathisch von Anfang an - was mich nicht stört. Auch ist zu verstehen, dass Maria, aller ihrer Freiheit beraubt, ihrer Herrschaftlicheit, zu einer alten, vergnatzten Frau mutiert. Doch das geht mir alles zu schnell, zu sprunghaft, völlig ohne Atmosphäre. Alles das, was den ersten Teil so interessant macht zu lesen, wird dem 2. Teil beraubt. Schade. Es klingt fast, als wenn hier jemand am Ende unter Zeitdruck stand und schnell die letzte Hälfte zusammengeschustert hat. Alles ist für mich oberflächlich, die Familiengeschichte, die Charaktere – Atmosphäre fehlt völlig in der zweiten Hälfte, in der Erich dominiert.


Wirklich gut ist der geschichtliche Hintergrund des Romans gelungen – aber auch der endet mehr oder weniger in der Mitte. Hier wurde Feinarbeit geleistet. Das hat mir ziemlich gut gefallen. Einer meiner Lieblingsdichter, Nazim Hikmet, wird erwähnt, man trifft auf Gertrude Bell. Eine Familie, die den Weg ins Bürgertum schafft, Kindern, denen der Krieg das Recht auf Bildung und Heimat nimmt, Lebensläufe, die auf den Kopf gestellt werden – wie das Titelbild zeigt. Ein sehr feiner Anfang, der für mich ins Nichts ausläuft. Leider. Am Ende sitze ich vor dem Roman und frage mich, was mir die Autorin mitteilen wollte. 


Tanja Paar wurde in Graz geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und arbeitete u. a. am Theater, für diverse Publikationen, als Journalistin und Moderatorin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien. Ob an den Rändern der Kontinente, zu Zeiten großer politischer Umbrüche oder in den nur scheinbar kleinen Dramen des Alltags: Die Figuren in Tanja Paars Romanen stehen vor inneren und äußeren Grenzen – und vor der Frage, wie sie sich überwinden lassen. 2018 erschien bei Haymon ihr Debütroman «Die Unversehrten»


Tanja Paar  
Die zitternde Welt 
Roman, historischer Roman, Familiengescichte
300 Seiten, gebunden
Haymon Verlag, 2020




Historische Romane

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.
Historische Romane





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Flusslinien von Katharina Hagena

  Gesprochen von Ruth Reinecke, Chantal Busse, Julia Nachtmann, Jesse Grimm Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 11 Std. und 15 Min. Margrit Raven ist hundertzwei und wartet auf den Tod. Früher war sie Stimmbildnerin , jetzt lebt sie in einer Seniorenresidenz an der Elbe . Die Erinnerungen und Ausflüge in einen Park halten Margrit am Leben - und die Besuche ihrer zornigen Enkelin Luzie, die sich kurz vor dem Abitur von der Schule abgemeldet hat. Sie übernachtet nun allein in einer Hütte für Sportler an der Elbe, will Tätowiererin werden. Und dann ist da noch Arthur. Wenn er gerade niemanden zur Dialyse fährt, sucht er mit einer Metallsonde den Strand der Elbe ab, erfindet Sprachen, kämpft für gefährdete Arten und ringt mit einer Schuld. Zu viel hier und da gefischt, irgendwie zusammengekocht, ein Einheitsbrei, bei dem mir die Tiefe zu einem Thema fehlte. Sprachlich gut, das haut es raus – aber alles zu weit ausgewalzt. Weiter zur Rezension:    Flusslinien von Katharina Hag...

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Erwischt: True crime - Zeitreisen ins Verbrechen von Christine Haas und Alexander von Knorre

  True crime: Überfall, Kunstraub , Betrug , Fälschung oder Hacking - phänomenale Verbrechen, die die Welt in Atem hielten, als spannendes Sachbuch präsentiert. Wer sich für die berühmtesten und spektakulärsten Verbrechen interessiert, liegt hier genau richtig. Den Eiffelturm verkaufen ? Was für eine Idee! Wer steckte dahinter und wie wurde der Täter erwischt? So macht ein Sachkinderbuch Spaß! Wissensvermittlung auf einer Ebene, die Comic und Sachbuch zusammenführt, so einen optischen Leckerbissen bietet und das Gehirn auf mehreren Ebenen anspricht. Klasse Kinderbuch ab 9 Jahren! Weiter zur Rezension:    Erwischt: True crime - Zeitreisen ins Verbrechen von Christine Haas und Alexander von Knorre