Rezension
von Sabine Ibing
Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren
von Ali Benjamins
Der Anfang: Wenn man eine Qualle lange genug betrachtet, beginnt sie irgendwann wie ein schlagendes Herz auszusehen. Es spielt keine Rolle, um welche Qualle es sich dabei handelt: die blutrote Kronenqualle Atolla, die Qualle aus der Familie Olindiidae, die an eine perlenbestickte Blume erinnert, oder die fast durchsichtige Ohrenqualle, Aurelia aurita.
Suzys ist zwölf und Suzy ist anders als all die anderen. Sie interessiert sich nicht für Lippenstifte und Kleider, sie interessiert sich für die Welt, und dafür, wie alles funktioniert. Ihre beste Freundin Franny ist im Meer ertrunken, obwohl sie gut schwimmen konnte. Das kann nicht einfach passieren, es muss einen Grund geben, jemand muss Schuld sein. Suzy ist sicher, Schuld war eine gefährliche Qualle! Die Lehrerin erteilt den Schülern eine Aufgabe: Jedes Kind soll eine wissenschaftliche Untersuchung erstellen und zum Thema ein Referat halten, das Thema ist frei wählbar. Das ist Suzys Chance, sie wird über Quallen ihren Vortrag halten und beweisen, auf welche Weise Franny ums Leben kam.
Manchmal passieren Dinge, die man nicht fassen kann
Ein langer Weg der Erkenntnis liegt vor Suzy, bis sie versteht, dass manchmal Dinge einfach passieren, dass man sie annehmen muss, weil man nichts ändern kann, weil niemand Schuld ist. Bis zu dieser Erkenntnis verweigert Suzy fortan die Sprache. Sie weiß, für dieses Referat muss sie den Mund aufmachen, aber bis dahin wird sie auch die Beweise vorlegen können. Das Buch gliedert sich in das Geschehen von heute, nach dem Tod von Franny und in einem zweiten Strang, in die Erinnerung an die Zeit mit Franny, auch wechselt später auch die Perspektive der Personen.
Wissenschaftler erforschen immer Ursache und Wirkung. Sie gehen der Frage nach, wie eine Veränderung an einer Stelle zu weiteren Veränderungen an ganz anderen Stellen führt. Aber Ursache und Wirkung sind nicht immer leicht zu bestimmen. Guten Forschungsstudien liegen klar umrissene Variablen zugrunde — unbestimmte, bestimmte und statistische Variablen. Sie helfen den Wissenschaftlern, die Veränderungen zu erkennen und die Ursachen zu ermitteln.
Wer nicht mit dem Strom schwimmt wird ausgegrenzt
Suzy spricht den Leser mit du an und erzählt voll Trauer von glücklichen Zeiten mit Fanny. Die beiden kennen sich lange und waren immer dicke Freundinnen. Doch ist es allein der Tod der Freundin, der Suzy so mitnimmt, fragt sich der aufmerksame Leser. Da war doch was! Susy ist fleißig, recherchiert über Quallen, setzt sich mit Forschen in Verbindung und ich erfahre als Leser Interessantes über die Tiere und über vieles andere mehr. Und ich erfahre auch, wie Suzy in der Klasse ausgegrenzt wird, ein Mobbing läuft gegen sie. Sie ist nicht allein, es gibt einen Jungen, der Klasse, der ein ähnliches Problem hat, aber der ist auch Suzy zu schräg. Man versteht, warum Suzy ihre einzige Freundin vermisst.
Da ist noch etwas, was ich dir sagen möchte: Die Quallen sind dabei, die Herrschaft zu übernehmen. Wusstest du das? … Nicht sehr viele wissen darüber Bescheid. … Sie interessieren sich für Videos von Klavier spielenden Katzen oder für Filmschauspieler, die in der Reha sind, und sie wollen genau wissen, wer wem den Freund weggenommen hat. Sie interessieren sich für die verschiedenen Farbnuancen von Lidschatten und für Online-Spiele und dafür, aus welchem Winkel sie auf Fotos am besten aussehen. Doch währenddessen. Weit draußen im Meer. Sind Quallenblüten auf dem Vormarsch.
Fanny und Suzy, eine eigene Welt, eine glückliche Mädchenfreundschaft. – Nun kommen weitere Perspektiven ins Spiel. Hey Suzy, was erzählst du uns? Du und Franny, wart ihr wirklich so dicke? Und irgendwas liegt dir auf dem Herzen, was hast du verbockt? Du warst wütend, stimmts?
Ich weiß, dass Pipi und Schweiß steril sind und dass es vor dem Entstehen unseres Universums weder Farbe noch Geräusche noch Licht oder Luft gab. Aber das ist alles nutzlos. Stattdessen müsste ich wissen, wie man eine Haarspange so trägt, dass es süß, aber nicht kindisch aussieht. Ich müsste wissen, wie man sich in eine Clique einfügt, wie man kreischt, wenn am Lagerfeuer die Funken sprühen, und wie man die Hüfte anwinkelt, wenn man neben Jungs steht.
Freundschaften sind nicht immer für die Ewigkeit gezimmert
Wir haben es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun. Doch Suzy wird dem Leser die Wahrheit beichten, sich stellen. Man muss sie lieben. Sie steht zu dem, was sie macht und lässt sich nicht in Äußerlichkeiten drängen, Gebalzgehabe liegt ihr fern, es gibt Wichtigeres auf der Welt, als sich herauszuputzen. Ali Benjamins schreibt einfühlsam mit viel Empathie, wundervolle Sätze und Einsichten, man kann das Buch als philosophisch bezeichnen. Die Sprache ist unkompliziert und trotz aller wissenschaftlichen Erörterungen seitens der Protagonistin ist es spannend, denn was sie herausfindet, ist nun mal fesselnd. Der Roman nimmt den Leser ein, lässt ihn nicht los, das Tempo steigert sich und es passiert noch einiges, bis Suzy auf dem Pfad der Erkenntnis angekommen ist. Es ist nicht einfach, anders zu sein. Man muss eine starke Persönlichkeit sein, um sich gegen den Strom zu stellen. Einsam zu sein ist allerdings auch nicht das Ziel. Aber irgendwo gibt es den ein oder anderen, der auch nicht mit dem Strom schwimmen möchte. Nach dem oder nach denen muss man Ausschau halten. Ein Buch über Freundschaft, über das Leben, über die Welt voller Leben, über Achtsamkeit und die Dinge, die einfach so kommen, die man annehmen muss. Dies ist das beste Jugendbuch, dass ich seit Jahren gelesen habe. Was heißt hier Jugendbuch? Ich würde den Roman unter All-Age klassifizieren, denn die Erzählung hat mich als Erwachsene mitgenommen wie selten ein Roman, aber nicht unter dem Aspekt Jugendbuch.
Ali Benjamin war bisher als Co-Autorin schriftstellerisch tätig, schrieb als Redakteurin für Zeitschriften, Zeitungen und Online-Medien. Ihr Debüt »Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren« wurde 2015 ein weltweiter Bestseller. Der Jugendroman wurde für den National Book Award nominiert und wird aktuell von Reese Witherspoons Produktionsfirma verfilmt.
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