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Die Toten von Thunder Bay von Douglas Skelton - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Toten von Thunder Bay 


von Douglas Skelton


Der Anfang: 

Sie spürte den Sand unter ihren Füßen und die warme Brise auf ihrem Gesicht, rings um sich hörte sie den Wind wild heulen. Sie schlug die Augen auf und sah das Wasser, so blau, ruhiger, als sie es je zuvor gesehen hatte. Wo es auf den Felsen traf, war es eher ein Kuss als ein Klatschen.


Für diesen Krimi, der als erster Teil einer Serie geplant ist, entwirft Douglas Skelton die fiktive schottische Insel Stoirm, einen Ort mit turbulentem Wetter und dunklen Geheimnissen, und stellt die junge Journalistin Rebecca Connolly in den Mittelpunkt des Romans. Die junge Frau berichtet beim «Highland Cronical» in Inverness, einer Wochenzeitung, über ziemlich langweilige Dinge der Region. Ein Fotograf und Berichterstatter der Insel gibt den Tipp, dass ein gewisser Roddie Drummond zur Beerdigung seiner Mutter auf die Insel zurückkehren wird. Er wurde vor 15 Jahren angeklagt, seine Freundin Mhairi Sinclair bestialisch ermordet zu haben. Doch mangels Beweisen wurde er freigesprochen. Es könnte auf der Insel ein wenig rundgehen ...  Rebeccas Chef allerdings meint, wenn sie darüber berichten will, dann solle sie telefonieren – heutzutage kann es sich eine Zeitung nicht leisten, für eine eventuelle Story jemanden abzustellen. Natürlich fährt Rebecca nach Stoirm, endlich eine heiße Story, endlich Recherche; außerdem stammt ihr verstorbener Vater von der Insel. Er verließ diesen Ort, kehrte niemals zurück – über seine Gründe wollte er mit niemandem sprechen. Eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.


Auf der Insel ist man nicht zimperlich

«Sie lehnte sich auf das Geländer, den Koffer zu Füßen, und musterte die Szenerie vor ihren Augen. Portnaseil selbst, der Berg, der hoch über der Westküste aufragte, die sanft welligen Hügel, die sich darunter erstreckten, Sie blickte nach Süden, wo die Landschaft sich zu einer Ebene mit einem Flickenteppich aus Feldern und struppigem Wald ausweitete. Die Küste war mit einer Reihe von Klippen gesprenkelt, immer wieder unterbrochen von windigen Sandbuchten, breiten Ständen und Meeresarmen.»

 

Gleich nach ihrer Ankunft nimmt Rebecca an einer Bürgerversammlung teil. Der junge Laird Henry erklärt, wie er die Insel ausbauen will: Der alte Herrensitz seiner Familie wird zum Luxushotel umgebaut, Wild soll im Forst ausgesetzt werden; und dann bekäme die Insel neue Touristen – zahlendes Klientel, Jobs für Inselbewohner. Von einem Einwohner bekommt Henry zu hören, dass dies den Einheimischen nichts bringen werde. Wenige Jobs für den Mindestlohn, die schwerreichen Jungs kämen, um Tiere abzuknallen, wohnen und essen im Luxusbunker, von denen käme niemand ins Dorf, ins Restaurant, würde hier einkaufen. Verdienen würde nur Lord Henry. Die Stimmung im Saal knistert und vor der Tür geht es gleich zur Sache. 


Eine paradoxe Welt

«Aye, verdammt hart. Lange Tage, Knochenarbeit, sehr wenig Ertrag. Die Leute haben gehungert. Sie sind an Krankheiten gestorben, an denen sie anderswo wohl nicht gestorben wären. Aber dieses Land war ihre Heimat, und zwar schon seit Generationen. Der Laird war mehr als nur ein Landbesitzer, er war ihr Clan-Anführer. Doch er dachte mehr als an seinen eigenen Geldbeutel, als an seine Leute, ... Er lebte nicht mal mehr hier. Er hatte ein Haus in Edinburgh ...»


Die Inseln vor der schottischen Westküste können wild und schön sein, aber sie gelten ebenso als unwirtschaftliche Orte. Zerklüftete Küsten, menschenleere Strände, Vogelbestände und an sonnigen Tagen fällt hier ein Licht ein, das auf keiner Postkarte in ganzer Schönheit strahlen könnte. Doch düstere Tage, Stürme des Atlantiks mit kalten, orkanartigen Winden und Schlagregen sind die unangenehme Seite. Genauso paradox verhalten sich die Einheimischen. Die anfängliche Aufgeschlossenheit und Gastfreundschaft knöpft sich schnell zu. Eigentlich sind Fremde unerwünscht; zieht man hier her, braucht es mehrere Generationen, bis man als Alteingesessener gilt. Die Thunder Bay ist eine abgelegene Bucht an der Westküste der Insel Stoirm, an dem sich den Überlieferungen nach die Seelen der Toten zur Überfahrt ins Jenseits versammeln, atemberaubend schön und gefährlich. Auf dieser Insel hält man als Familie zusammen, egal, was passiert. 


Die Familie hält zusammen - auf Biegen und Brechen


Auf der Gasse, die zur Tür der Sinclais führte, stand der Idiotentrupp. ... Keiner von ihnen hatte keine Kapuze, denn sie waren ja echte Männer, und das bisschen Wetter würde ihnen nichts ausmachen, weil Testosteron so ein wunderbarer Schutzschirm war. Ein neues Gesicht war aufgetaucht ... Er trug einen dicken Parka und hatte die Kapuze übergezogen. Sein Testosteron-Pegel war wohl noch nicht ganz so wetterfest.


Rebecca Connolly sucht nach der Wahrheit. Wer hat Mhairi Sinclair damals wirklich getötet? Ein auktorialer Erzähler berichtet meist aus Sicht der Hauptperson, aber er mischt sich auch erzählerisch ein und und in die Sicht von anderen Figuren; Rückblicke werden eingeflochten. Männer, vom alten Schlag, raubeinig, Machos, Gewalt gegen Frauen steht an der Tagesordnung. Es bleibt alles in der Familie, Familiengeheimnisse gehen niemanden etwas an. Schon gar nicht Journalistinnen. Douglas Skelton schafft Atmosphäre, in Menschenschlag und Natur. Aber es geht hier nicht nur um die Aufklärung des Mordes, was geschickt gesetzt ist. Landflucht, das Überleben der Inselbewohner mit kargem Einkommen, das Für und Wider des Tourismus, die geschichtliche Entwicklung von Großgrundbesitz auf Kosten der übrigen Bevölkerung, Niedergang von Zeitungen, gutem Journalismus; es ist ein vielschichtiger Roman mit literarischer Qualität, der das Lesen zum Genuss macht. Ein wildes Schottland mit zerklüfteten Felsen in der Brandung, Naturspektakel, bewohnt von einer eigenwilligen Sorte Mensch auf den Inseln, authentisch transportiert mit einer glaubhaften Geschichte, die all das zusammenbringt. Ich freue mich auf den nächsten Fall der Journalistin aus Inverness. 


Douglas Skelton wurde in Glasgow geboren. Nach mehreren Büchern über wahre Verbrechen widmet er sich heute Kriminal-romanen. ›Die Toten von Thunder Bay‹, der erste Roman um die Reporterin Rebecca Connolly, stand auf der Longlist für den McIlvanney-Preis als bester Kriminalroman des Jahres. Douglas Skelton lebt im Südwesten Schottlands.


Douglas Skelton
Die Toten von Thunder Bay
Originaltitel: Thunder Bay
Ein Fall für Rebecca Connolly
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Seeberger
Krimi, Kriminalliteratur, literarischer Krimi, Schottland, englische Literatur, 
Taschenbuch, 416 Seiten
DuMont Verlag, 2021




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

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