Direkt zum Hauptbereich

Die Tankstelle von Courcelles von Matthias Wittekindt - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Die Tankstelle von Courcelles 

von Matthias Wittekindt


Der Anfang (Lou) Dünne Beine sind für ein Mädchen kein Grund, sich geschlagen zu geben. Vor allem dann nicht, wenn das Mädchen erst neun Jahre alt ist und noch nie über seine dünnen Beine nachgedacht hat.

Courcelles, ein kleiner Ort am Rande der Vogesen, an der Landstraße, ein Ort, aus dem etwas werden sollte, der es nicht schaffte, aus dem Provinzmief herauszukommen. Ein Steinbruch, eine Tankstelle, eine Schweinemast. Mehr hat die Stadt nicht zu bieten. Noch gibt es ein Gymnasium, auch das wird schließen. Eine eine Clique bereitet sich auf das Abitur vor, neben dem Lernen treffen sie sich, um sich die Zeit zu vertreiben. Lou, die Tochter des Tankstellenpächters und Philippe, Sohn des Försters, sind die Hauptpersonen, sie sind ein Paar. Die Jugendlichen debattieren über ihre Zukunft, ein Studium in Paris. Philippe wird bewundert, er ist laut seinem Lehrer extrem intelligent, unterfordert in der Schule, er provoziert gern. Julien ist der Freund von Philippe, aber auch er ist verliebt in die spröde, wilde Lou, die kein Problem hat, sich mit Jungs zu prügeln. Die Mädchen stehen auf Philippe.

Was jemand ist, hat nichts mit Plänen oder mit Gedanken oder Freiheit zu tun, sondern mit Konstellationen. Es gibt überhaupt keine Einzelnen und auch keine Kontrolle.

Alles läuft auf den einen Tag hinaus, 1978: Lou arbeitet oft in der Tankstelle, um ihr Taschengeld aufzubessern, schiebt auch mal Nachtschicht. Und dann kommt diese eine Nacht, zwei Männer werden erschossen. Der Erzähler hat eine Meinung zu seinen Figuren, beschreibt sie aus seiner Sicht und fragt sich, ob diese oder jene Episode in der Kindheit schon darauf hindeutete, dass dieser oder jener kriminelle Energie besitze. Das Ereignis lauert tief unter der Erzählung, wir wissen, dass etwas passieren wird an der Tankstelle.

Für mich bist du ein Rassist und Menschenhasser ganz sauberer und reiner Art. Man könnte auch sagen, ein Verführer. Es macht dir jedenfalls Spaß, unsere Freundschaft zu missbrauchen und uns in die Irre zu führen. Aber wir werden dich nicht auf deinem Marsch in den Tod begleiten. Wir werden Abitur machen, studieren und leben.

Der Roman beginnt leise, baut die Figuren auf, jeder aus der Clique wird vorgestellt. Matthias Wittekindt arbeitet kunstvoll, indem er seine Figuren im Alltagsgeschehen und durch Dialoge einführt. Monsieur Theron, der Lehrer der Klasse, bringt die Gedanken der Schüler ins Rollen. Was ist Recht, was ist Unrecht, wann ist der Mensch frei. Ist er überhaupt frei? Die Jugendlichen diskutieren miteinander, machen sich Gedanken über ihr Leben. Sie konkurrieren miteinander, sie verlieben sich, entlieben sich, junge Leute in der Provinz, in der sie keine Zukunft haben. Psychologisch ist der Krimi fein aufgebaut. Der Autor ist auf der Suche, was einen Menschen antreibt und was passieren muss, welche Konstellation aufeinandertreffen müssen, damit Gewalt ausbricht. Was ist die Wahrheit und was ist Lüge? Wer lügt sich selbst etwas vor? Ist er in der Lage, das zu begreifen?

Tankstellen sind Anziehungspunkte. Jugendliche, die sich am Abend hier treffen, weil sonst nichts los ist, sie sind Settings für Autorennen oder Morde oder für Schnittpunkte im Leben. Auch hier ist die Tankstelle gut gewählt, um die Geschichte auf den Höhepunkt zu treiben. Und natürlich gibt es zwei ermittelnde Kommissare, aber sie sind Randfiguren. Ein Krimi, der mir gut gefallen hat, ein literarischer Krimi. Die Spannung im Subtext stetig mitlaufend, ein Provinzdrama, glaubwürdig aufgebaut.

Matthias Wittekindt studierte Architektur und Religionsphilosophie, arbeitete in Berlin und London als Architekt. Es folgten einige Jahre als Theaterregisseur. Seit 2000 ist er als freier Autor tätig, schreibt u.a. Radio-Tatorte für den NDR. Für seine Hörspiele, Fernseh-Dokumentationen und Theaterstücke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 2014 mit dem
deutschen Krimipreis.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Dunkle Sühne von Karin Slaughter

  Gesprochen von NinaPetri  Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Stunden und 55 Minuten  Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle. Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli . Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich, ihr Vater ist der Sheriff der Kleinstadt. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen. Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Ein klasse Auftakt für eine Serie,  Copkrimi , Whodunnit , ein düsterer, stimmungsvoller literarischer Krimi aus den ländlichen Südstaaten, gut aufgebaute Charaktere, toxische Männlichkeit , Spannung, Familiendramen, Wendun...

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - A GOOD GIRL’S GUIDE TO MURDER von Holly Jackson

Ein überraschend guter Jugendkrimi ab 14 Jahren! Für ein Schulprojekt will Pippa, genannt Pip, den Vermisstenfall «Andie Bell» rekonstruieren, wobei sie die Bedeutung der Printmedien und Social Media untersuchen will. Andie Bell war fünf Jahre zuvor in einer Nacht verschwunden. Ihr Freund Sal Singh wurde verdächtigt, denn es gabt einige Spuren, die zu ihm führten, die Medien fuhren sich auf ihn ein. Sal Singh hatt kurz darauf Suizid begonnen, sich an einem Baum aufgehängt. Für den gesamten kleinen Ort und für die Polizei war die Sache klar: Andie ist ermordet worden, Sal bringt sich um und gesteht somit den Mord. Pip will genau wissen, was damals geschah. Weiter zur Rezension:  A GOOD GIRL’S GUIDE TO MURDER von Holly Jackson