Direkt zum Hauptbereich

Die Nacht der Acht von Philipp Le Roy - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Nacht der Acht 


von Philipp Le Roy


Der Anfang: 

Wie können aucht Jugendliche an einem einzigen Abend Verschwinden? Diese Frage ging den Polizisten, die das leere Haus durchsuchten, nicht aus dem Kopf.


Acht Jugendliche treffen sich in einer Villa in Südfrankreich, das der Familie eines der Jungen gehört. Vier Mädchen und vier Jungs, die ein Gymnasium besuchen, das auf künstlerisches Gestalten ausgerichtet ist. Man nennt die Clique «Die Acht». Für dieses Wochenende wollen sie sich gegenseitig das Fürchten lernen: Wer Angst hat, muss trinken. Jeder von ihnen soll etwas vorbereiten, dass den anderen in Angst und Schrecken bereitet. Und das schaffen sie ziemlich gut. 


Zwischen den Brotscheiben auf der Arbeitsfläche lagen drei Finger. Mathilde hatte sich die halbe Hand abgeschnitten.


Es beginnt gleich blutig (das einzige Mal, dass Blut fließt). Coole Leistung: Gummifinger vom Film, Kunstblut, Mathildes schauspielerische Leistung – und alle sind überzeugt, ihre Finger sind ab. Jeder von ihnen hat eine Show vorbereitet und alle fallen drauf rein. Der arabischstämmige Mehdi verhält sich seit dem Eintreffen muffig und unnahbar, flippt völlig aus, nur weil jemand meint, die Plätzchen der Mutter seinen so köstlich, er könnte sie glatt heiraten. Bloß nicht die Mutter erwähnen! Am heutigen Tag ist er ungewöhnlich düster. Plötzlich zieht er eine Waffe, ballert herum, schreit «Allahu Akbar», droht alle umzubringen, die räudigen Ungläubigen. Den anderen rutscht das Herz in die Hose! Jeah! Alle einen Shot trinken! Reingefallen – Platzpatronen! Grinsend ist Mehdi wieder zurück, ein Womanizer ... Hier geht es um Vorurteile. Ein Mehdi, der niemals religiös war, der die Mädchen liebt, ein ganz normaler witziger Junge ist, ein Freund – dem traut man zu, dass er sich von einem Tag auf den anderen radikalisiert? Weil er arabische Vorfahren hat? Und wie kommt er dazu, sich dieses Themas anzunehmen? Dazu hat Mehdi eine Vorgeschichte aus seinem Leben zu bieten.


Einige Sekunden später grollte der Donner direkt über ihnen. Das Haus bebte.

‹Erwischt!› Julien zeigte auf Camille. ‹Du hast Angst gehabt, also musst Du trinken.


Doch manche Dinge sind dann doch komisch. Sie werden das Gefühl nicht los, als wäre noch jemand im Haus. Dieser Ort ist merkwürdig. Denn man sagt ihm seit Generationen nach, dass Außerirdische zu Besuch kämen – sie schaden niemandem, doch sie schleichen durchs Haus. Es gibt genug Presseartikel dazu. Oder bewohnen doch Geister das Haus? Léa sieht ein Mädchen auf dem Dachboden, im Flur, doch die anderen haben es nicht bemerkt, meinen, sie fantasiert. Die Steine, das Toktoktok, auf dem Dachboden, auf der Treppe ... alle schwören, keiner von ihnen ist es gewesen! Plötzlich fehlt jemand aus ihren Reihen. Und dann verschwindet eine weitere Person – es wird nicht die Letzte sein. Das Haus, früher eine Schäferei, heute protzig ausgebaut, liegt abgeschieden in den Bergen des Südfranzösischen Col de Vence oberhalb von Nizza. Das Netz ist ausgefallen, sollen sie sich in Dunkelheit und Regen auf einen langen Fußmarsch machen?


Und wenn der Eindringling schon die ganze Zeit im Haus war?, überlegte Julien.

Camille schluckte. «Dann haben wir uns zusammen mit ihm eingeschlossen.


Auf dem Treppenabsatz blieb Quentin wie angewurzelt stehen, wich zurück und schloss hastig die Tür.

‹Was ist los?›, fragte Camille.

‹Da unten ist jemand.


Ein klasse Horrorroman für Jugendliche, weil er mit unseren Urängsten spielt, mit alten Mythen und Märchen: Die weiße Frau, das Gesicht, ganz plötzlich im Regen vor dem Fenster, der Keller, Geräusche, Geister, mit denen man kommunizieren kann, Dunkelheit ... Die Angst im Kopf. Philipp Le Roy verbindet hier Kunst und Kultur mit Gefühlen. Es gibt am Ende eine Liste zu den Künstlern und Filmen, die erwähnt werden. Was ist Kunst, was ein künstlerischer Ausdruck? Alle diese Jugendlichen sind in der Abschlussklasse, haben ihr Thema, arbeiten an ihrer Abschlussarbeit, an ihrem künstlerischen Projekt: Musik, Comic, Theater, Performance usw. Sie entwickeln Szenen, um ihre Freunde zu erschrecken, sind gut vorbereitet – und da ohne großen Aufwand an Material und Technik. Das Spiel mit den Ängsten, gut inszeniert, die richtigen Trigger angesprochen, die man in der Stunde vorher bereits angestoßen hatte. Der Alkoholkonsum tut sein Weiteres. Jugendliche, Trinkspiele, derbe Späße, viel mehr braucht es nicht, um einen Jugendroman zusammenzubasteln. Aber dieser hier ist richtig gut! Keine Mumien, Monstren, Mutationen – was passiert, das passiert im Kopf, denn alles ist psychologisch fein austariert. Ein harmloses Vergnügen wird zum Horrorerlebnis. Die Dialoge sind fein gesetzt: Anfangs locker, bis flapsig, humorvoll, Jugendjargon. Je länger der Abend wird, umso ängstlicher und ernster wird die Sprache. Aber der Autor spielt auch mit dem Leser: Im Prolog ist die Polizei bereits auf der Suche nach den verschwundenen Jugendlichen. Und dann verschwindet einer nach dem anderen ... Gibt es vielleicht doch Geister, Monster oder einen Massenmörder? Bisher hatte sich fast alles aufgelöst, es gab eine logische Erklärung. Na, eben nur fast. Die Steine, die Geräusche, jemand hat den Strom und das Telefonnetz lahmgelegt ... Philipp Le Roy hat geschickt den Epilog vorausgesetzt, um seine Leser*innen zu verunsichern. Denn die springen auf die gleichen Trigger an. 


Die Charaktere sind gut herausgearbeitet, auch wenn sie ein wenig klischeehaft herüberkommen. Der Jugendroman hat Niveau und Nervenkitzel. Spannend, ein wenig Horror, und was mir besonders gefallen hat: unblutig, nicht monströs oder irgendwie abartig, sondern ein Grauen, das unsere Urängste triggert. Sich bewusst machen, wie dämlich die ein oder andere Angst ist, nachdenken, woher wir sie beziehen, wie schnell wir uns täuschen lassen. Ich habe mich nicht gegruselt – denn es ist ein typisches Jugendbuch – aber ich fand den Roman ziemlich spannend. Der Carlsen Verlag gibt eine Altersempfehlung ‎ ab 14 Jahren. Ich denke, das Buch ist ab 13 Jahren geeignet. Die Geschichte ist «zumutbarer» Horror, intelligent konstruiert, was mir gut gefallen hat. Hier springt nicht irgendein Monster aus der Kiste, das alles umsäbelt. 


Mit seinem Titel «Pour Adultes Seulement», hat sich Philip Le Roy 1997 in die Literaturszene gestürzt. 2005 erhielt sein Buch «Le Dernier Testament» den «Grand Prix de Littérature Policière» und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. In seinen Büchern schafft er stets herausragende Persönlichkeiten. Philip Le Roy lebt in Vence, zwischen dem Meer und den Bergen, wo er sich dem Schreiben und dem Kampfsport widmet. »Die Nacht der Acht« ist Le Roys erstes Jugendbuch.



Philipp Le Roy 
Die Nacht der Acht
Originaltitel: Dans la maison
Aus dem Französischen übersetzt von Maja von Vogel
Jugendroman, Horrorthriller, Spannungsliteratur, Grusellektüre
Taschenbuch mit Klappenbroschur, 288 Seiten
Carlsen Verlag, 2021
Altersempfehlung: ‎ ab 14 Jahren




Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Drainting: Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger

  Als Drainting bezeichnet Felix Scheinberger die intuitive Kombination von Malen und Zeichnen. Damit hebt er die jahrhundertealte heute vollkommen unnötige Trennung zwischen Flächen malen und Linien zeichnen auf und verbindet das Beste aus beiden Welten. Früher machten wir einen Unterschied zwischen Zeichnen und Malen und damit fingen die Schwierigkeiten an. Wo es nämlich gar keine Umrisslinien gibt, gilt es, diese abstrakt zu (er)finden. Die intuitive Kombination aus Zeichnen (Drawing) und Malen (Painting) garantiert gute Ergebnisse und unendlichen Spaß! Eine gute Einführung erklärt das Knowhow und Grundsätzliches zum Malen und Zeichnen – gute Ideen, die man selbst umsetzen kann. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

  Gesprochen von Hans Jürgen Stockerl Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 7 Min. Wir schreiben das Jahr 1683. Der junge Engländer Obediah Chalon, Spekulant, Händler und Filou, hat sich in London gerade mit der Investition von Nelken verspekuliert und eine Menge Leute um ihr Geld gebracht, das mit gefälschten Wechseln. Conrad de Grebber, Direktoriumsmitglied der Vereinigten Ostindischen Compagnie bietet Obediah  die Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen: Er wird auf eine geheime Reise geschickt, um etwas zu stehlen: Kaffeepflanzen. Spannender Abenteuerroman rund um den Kaffee. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

Rezension - Killer Potential von Hannah Deitch

  Als Evie Gordon an einem Tag bei den Victors klingeln will, steht die Tür offen. Sie ruft, niemand antwortet. Dann findet sie Mr Victor tot im Pool schwimmend, Mrs Victor liegt mit zermatschtem Schädel tot im Wohnzimmer. Das alles muss gerade passiert sein, Evie hat Angst, will das Haus verlassen, als sie leise Hilferufe hört. In einer Kammer unter der Treppe findet sie eine gefesselte Frau. Sie befreit sie. In dem Moment kommt die Tochter nach Hause, schreit entsetzt der Szenerie, geht auf Evie los, die in ihrer Not dem Mädchen eine Lampe über den Kopf zieht. In Panik verschwindet Evie mit der Unbekannten – ein Roadmovie beginnt. Der Roman konnte mich leider nicht überzeugen. Weiter zur Rezension:   Killer Potential von Hannah Deitch

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis

  (Detektivbüro LasseMaja, Bd. 37)  Es gibt hochfliegende Pläne im Ort Valleby: Ein Astronaut macht mit seiner Raumkapsel in der Kleinstadt Station und will als Nächstes den Planeten Neptun ansteuern. Und laut tönt er, er suche Astronaut:innen, die ihn begleiten. Bewerber will er einem Astronauten-Test unterziehen, danach bestimmt er, wer mitfliegen darf! Natürlich benötigt er auch Spenden für sein Projekt. Die Detektiv:innen Lasse und Maja hören genau zu. Und bei dem, was der Mann so erzählt, kommt schnell der Verdacht, dass an der Geschichte etwas faul ist und der Typ ein Betrüger ist. Das teilen sie dem Dorfpolizisten mit – doch der hat gerade keine Zeit für sie. Ein Dieb geht um … Spannender, witziger Kinderkrimi ab 8 Jahren, Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis 

Rezension - Der Gott des Waldes von Liz Moore

Im August 1975 findet wie jedes Jahr ein Sommercamp in den Adirondack Mountains für Kinder und Jugendliche statt. Als Barbara eines Morgens nicht wie sonst in ihrer Koje liegt, beginnt eine großangelegte Suche nach der 13-Jährigen. Barbara ist keine gewöhnliche Teilnehmerin: Sie ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und das umliegende Land in den Wäldern gehören. Viele Jahre zuvor verschwand hier der achtjährige Bear, ihr Bruder, der seit 14 Jahren vermisst wird. Hängen die Vermisstenfälle zusammen? Liz Moore zeigt mit ihrem literarischen Krimi ein Gesellschaftsbild, bei dem Frauen nichts zu sagen haben. Spannender Gesellschaftsroman, ein komplexer Kriminalroman. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Der Gott des Waldes von Liz Moore

Rezension - Pilzliebe von Gerhard Schuster, Christine Schneider

Waldpilze sind einfach zum Verlieben! Und welche sich zum Essen eignen, erfahren wir in diesem Buch – einschließlich mit Rezepten. Pflücken, zubereiten, konservieren. Flexitarier, Vegetarier und Veganer lieben sie als hochwertigen Fleischersatz. Die Pilzexperten Gerhard Schuster und Christine Schneider zeigen, welche Pilze man wie zubereitet, damit sie zum Hochgenuss werden. Nebenbei räumen sie auch mit alten Mythen auf. Unter den mehr als 50 Rezeptideen gibt es neben den bewährten Klassikern auch echte Pilzküchen-Überraschungen zu entdecken. Weiter zur Rezension:    Pilzliebe von Gerhard Schuster, Christine Schneider

Rezension - Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt

Bendix, der Häuptling des Keltendorfs Taigh, ist außer sich: Jemand hat seinen Honigtopf gestohlen! Lindis, der Ziehsohn der Dorfdruidin Kundra und dessen Freunde Finn und Veda wollen der Sache auf den Grund gehen. War der Dieb hinter der wertvollen Amphore her oder hinter deren speziellem Inhalt? War es einer der fahrenden Händler? Und dann ist auch noch die kleine Tochter der Sklavin verschwunden! Unter dem Vorwand, fischen gehen zu wollen, machen sich die drei Jugendlichen heimlich auf die Suche nach den Händlern und kommen dabei einem Geheimnis auf die Spur … Weiter zur Rezension:    Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt