Direkt zum Hauptbereich

Die man nicht sieht von Lucía Puenzo - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die man nicht sieht 

von Lucía Puenzo


Der erste Satz: Bevor sie in Once auftauchten, hatte es sich schon herumgesprochen: Sie waren dabei, Kinder anzuwerben, die den Sommer über in Uruguay arbeiten sollten.

Ich lese gern Literatur aus Südamerika, Argentinien steht hier für mich an erster Stelle. Lucía Puenzo legt einen Roman vor, den ich sogar in den Bereich Thriller einordnen würde und auch als Jugendbuch empfehle. Ein spannender Stoff um eine Kinderbande, die zu Einbrechern trainiert wird, - sie kämpfen um ihr eigenes Überleben – es ist nur ein Job. Weshalb hat dieses gute Buch bisher keine Beachtung gefunden?

In den Händen der Bandenkriminalität

Noch nie hatte er so ein großes Haus gesehen. Er war auch noch nie im Kino oder im Theater gewesen. Aber etwas lag in diesen stummen Szenen, die sich in den einzelnen Zimmern abspielten, etwas von Werbespots, in denen alle Darsteller den passenden Gesichtsausdruck für die perfekten Ferien übten.

Ismael und Enana sind circa dreizehn, Enanas kleiner Bruder Ajo, der Jüngste, ist sechs. Sie leben in Once, ein Vorort von Buenos Aires, wohnen sozusagen im Bahnhof. Sie sind eins von vielen Gaunertrios, das jede Nacht auf Diebestour geht. Guida ist der Chef, der sie instruiert, die Häuser aussucht, ihnen Tipps gibt, wie sie einsteigen sollen, dem sie die gesamte Beute aushändigen müssen. Ajo ist sehr klein, geschmeidig, kann klettern wie ein Affe, kommt überall rein, wo eine Katze einsteigen kann. Die Bewohner sind nie zu Hause, wenn die Kinder einbrechen, und zuerst bedienen sie sich am Kühlschrank. Ein Stückchen hiervon, ein Stück dort, nur nicht zu viel, es darf nicht auffallen. Und genauso klauen sie: Ein oder zwei Schmuckstücke, nie das Wertvollste, ein wenig Silberbesteck, einen Kerzenständer. Der Einbruch darf nicht auffallen. Sollten die Bestohlenen später irgendwann etwas vermissen, würden sie die Angestellten in Verdacht haben. Der Einbruch ist nie zu erkennen. Man sieht sie nicht – sie waren nie in diesem Haus.

Ismael wusste es; und er wusste, dass die Männer mit dem Pick-up es wussten. Das jedoch verwandelte den Auftrag in etwas ganz anderes: in einen Opfergang.

Die Fahrt ins Ungewisse

Aber irgendwann wird auch ihre Zeit abgelaufen sein, sie werden zu alt sein – zu groß und sie kommen bald in das Alter strafmündig zu sein. Eines Tages bekommen sie den Auftrag, die Heimat zu verlassen, sie werden nach Uruguay verfrachtet, sollen Villen in einer umzäunten Urbanisation ausnehmen. Irgendwas an diesem Job ist faul, so die Ahnung des Trios. Aber sie haben keine andere Wahl.

Es gab keinen Zweifel: Sie wussten Bescheid. Die Aktion hatte nichts Improvisiertes. Es waren mehr als zwei, die sich die Beute teilten. Darum hatten sie an der Küste Kinder im Einsatz, die das Gleiche taten wie sie: Nur so rentierte sich das Geschäft.

Ein Leben auf der Straße

Kinder, die ohne Eltern aufwachsen, meist verstoßen, die sich auf die ein oder andere Art am Leben halten, immer beschissen um einen gerechten Lohn bei der Arbeit. Kinder, die arbeiten müssen, die von skrupellosen Erwachsenen ausgenutzt werden, deren Leben keinen Cent wert ist, die selten eine Schule besucht haben, ein Roman über eine ganz normale Existenz auf der anderen Seite der Weltkugel. Sehr berührend ist die Szene, in der Ajo Guida vermisst, den Mann, der ihn zum Stehlen ausbildet, Ajo in die Gefahr bringt, selbst in Sicherheit bleibt, Guida, der die Kinder verkauft – er, der Ajo das Gefühl vermittelt, er sei so etwas wie sein Vater, den er nie gehabt hat.

Sie rannten nicht mehr, um sich vor den Kiebitzen in Sicherheit zu bringen. Sie rannten, um die Angst, die Kälte, den Hunger, das Eingesperrtsein abzuschütteln. Sie rannten, weil die Extraportion Sauerstoff sie munter machte und weil von allem, was sie kannten, Adrenalin das war, was Glücksgefühlen am nächsten kam.

Krasse Gegensätze 

Sehr eindringlich beschreibt Lucía Puenzo diese Straßenkinder, die mit sehr viel Freude, Energie und Zusammenhalt ihr Leben meistern. Kinder, die nicht mehr besitzen, als die Bekleidung, die sie tragen, die einberechnen müssen in Häuser von den Menschen, die von allem zu viel haben. Sie steigen in Kinderzimmer ein, voller Elektronik, Markenkleidung, Inliner usw. Der kleine Ajo kommt ins Schwärmen, hier gibt es Dinge, die hat er nie zuvor gesehen. Die Autorin beschreibt, wertet nicht. Der Leser lernt auch die andere Seite kennen, die Tippgeber, die mitverdienen an den Diebstählen. Es sind Angestellte der Reichen, die Menschen, die gut bezahlte Jobs haben, die ein kleines Fenster auf Kipp stehenlassen, Zahlenkombinationen verraten, die eigene Interessen mit den Einbrüchen verfolgen. Ein feines Gesellschaftsbild blättert sich auf, ein spannendes Buch.


Lucía Puenzo arbeitet als Schriftstellerin und Filmemacherin. Beim Filmfest in Cannes wurde sie 2007 mit dem Film »XXY« mit de, Grand Prix de la Semaine de la Critique und in Madrid mit dem Goya für den besten nichtsspanischen Film ausgezeichnet. Ihr Film »Wakolda« gewann 20 internationale Preise. Ihre Serie »Ingobernable«, auf Deutsch: Unregierbar, ist ab Dezember 2018 auf Netflix zu sehen, es geht um Mexiko.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Dunkle Sühne von Karin Slaughter

  Gesprochen von NinaPetri  Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Stunden und 55 Minuten  Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle. Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli . Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich, ihr Vater ist der Sheriff der Kleinstadt. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen. Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Ein klasse Auftakt für eine Serie,  Copkrimi , Whodunnit , ein düsterer, stimmungsvoller literarischer Krimi aus den ländlichen Südstaaten, gut aufgebaute Charaktere, toxische Männlichkeit , Spannung, Familiendramen, Wendun...

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Flusslinien von Katharina Hagena

  Gesprochen von Ruth Reinecke, Chantal Busse, Julia Nachtmann, Jesse Grimm Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 11 Std. und 15 Min. Margrit Raven ist hundertzwei und wartet auf den Tod. Früher war sie Stimmbildnerin , jetzt lebt sie in einer Seniorenresidenz an der Elbe . Die Erinnerungen und Ausflüge in einen Park halten Margrit am Leben - und die Besuche ihrer zornigen Enkelin Luzie, die sich kurz vor dem Abitur von der Schule abgemeldet hat. Sie übernachtet nun allein in einer Hütte für Sportler an der Elbe, will Tätowiererin werden. Und dann ist da noch Arthur. Wenn er gerade niemanden zur Dialyse fährt, sucht er mit einer Metallsonde den Strand der Elbe ab, erfindet Sprachen, kämpft für gefährdete Arten und ringt mit einer Schuld. Zu viel hier und da gefischt, irgendwie zusammengekocht, ein Einheitsbrei, bei dem mir die Tiefe zu einem Thema fehlte. Sprachlich gut, das haut es raus – aber alles zu weit ausgewalzt. Weiter zur Rezension:    Flusslinien von Katharina Hag...

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht