Direkt zum Hauptbereich

Die Gesichter von Tom Rachman - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing


Die Gesichter 


von Tom Rachman


Der erste Satz: Bear Bavinsky tunkt seinen Kopf ins dampfende Wasser der kupfernen Badewanne und schüttelt den Bart aus, dass die Tropfen durchs Atelier fliegen.

Charles, genannt Pinch, wohnt mir seiner kanadischen Mutter Natalie in einem Atelier in Rom, sie arbeitet als Keramik-Künstlerin. Bear, der Vater von Pinch, ein Amerikaner, der die Mutter auch bereits geheiratet hat, zieht ein, als Pinch noch klein ist. Bear ist ein weltweit gefragter Künstler und sein Ego ist genauso berühmt wie seine Bilder. Natalie ist die x-te Muse, x-te Ehefrau und Pinch das x-te Kind. Insgesamt wird Bear bei seinem Tod 17 Kinder hinterlassen (anerkannte Kinder). Der Vater zieht in Rom mit all seiner Präsenz ein, was dazu führt, dass die Mutter aufhört zu töpfern, denn das Quietschen der Töpferscheibe geht Bear auf die Nerven. Arbeitet er nicht, hat sie für ihn da zu sein. Nun wird der Familie von Galeristen eine pompöse Wohnung zur Verfügung gestellt, aus der Natalie und Sohn beim Abgang von Bear natürlich ausziehen müssen. Pinch ist am Malen interessiert, aber erhält eher Versprechungen, als Malstunden vom Vater. Als Schwester Birdie aus Amerika zu Besuch kommt, der Vater will mit der Tochter die Ferien verbringen, hat er nie Zeit für sie. So ergeht es auch Pinch als er später den Vater in den USA besucht.

Birdie schlendert zur Leinwand, an der die beiden stehen, sieht einen Moment lang zu und stürzt dann nach vorn, lässt sich gegen das Bild fallen und verschmiert überall Farbe. ›Hoppala‹, sagt sie.

Rachman zieht den Leser am Anfang der Geschichte in die Bohème der 1950er-Jahre von Rom hinein, ein schön gezeichnetes Ambiente. Natalie ist niemand, auch wenn Bear sie für begabt hält, eine Ausstellung in einer Galerie für sie organisiert, ein Desaster. Natalie, ohnehin nicht mit Selbstvertrauen gesegnet, will niemand interviewen, niemand stößt mit ihr an und niemand interessiert sich für ihre Keramik. Alle fragen nach Bear, sie sind seinetwegen gekommen, wollen seine Hand schütteln, mit ihm reden. Der Über-Bear – der Mann, den alle lieben, der Geniale, der Partylöwe, dem sich die Frauen zu Füßen werfen – jeden Menschen an seiner Seite, drängt er in seinen Schatten. Picasso bezeichnet er als Dreckskerl, Renoir habe nicht mal Talent zum Maler.

Ich halte große Stücke auf dich, mein Sohn, das weißt du‹, mit einem Kopfnicken deutet er auf das Bild, ›aber ich muss dir sagen, Kiddo, ein Maler bist du nicht, und du wirst auch nie einer werden.

Bear, zurück in Amerika verheiratet mit einer neuen Ehefrau, beglückt mit neuen Kindern, wird eines Tages von Pinch besucht. Der ist verwundert, wie alt seine Geschwister bereits sind, rechnet – die müssen schon während der Zeit geboren sein, als der Vater noch in Rom lebte, hin und wieder zu Ausstellungen hinüberfuhr. Und Pinch erlebt das, was er aus Rom kennt: Bear zerstört seine Gemälde, sobald er sie gemalt hat – nicht gut genug. Sein Ruhm basiert auf alte Zeiten. Bear ist auch nicht mehr gefragt, die jungen Maler ziehen an ihm vorbei. Das Ganze dargestellt in einer wundervollen Szene bei einer Ausstellung in New York, die Pinch mit seinem Sohn besucht. Gierige Ehefrauen möchten ausgezahlt werden und darum versteckt Bear 24 seiner alten Werke, die er nicht verkaufen will, in einem Chalet in Frankreich. Pinch ist sein Lieblingssohn und seine Mutter meint, er sei talentiert. Stolz zeigt er dem Vater eine Zeichnung. Doch die Antwort haut Pinch um: Völlig untalentiert! Der Traum geplatzt, er wird nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen – vorerst …

Nicht jeder kann ein Künstler sein. Aber für jene von uns, die Künstler sind, ist es ein Krieg. Ein totaler Krieg.

Bear ist ein Narzisst, wie man ihn nicht besser beschreiben kann. Alles dreht sich um ihn selbst in seinem Leben: 1. Bear Bavinsky ist der Wichtigste, 2. Bear Bavinsky ist der größte Maler, 3. Der einzige Mensch, der in seinem Leben zählt, ist Bear Bavinsky. Wer lediglich mit sich selbst eine Beziehung pflegt, ist unfähig, andere zu lieben, andere neben sich stehen zu lassen. Und darum hält Bear alle Menschen um sich herum klein, liebt es, genau das zu definieren, damit sie sich ihrer Bedeutungslosigkeit bewusst sind. Wenn er sich umdreht, hat er sie vergessen. Er hält kaum zu einem  seiner Kinder den Kontakt aufrecht – nur zu Charles, den der Vater schon mit diesem Spitznamen kleinhält. Seelische Gräber, die Bear bei Frauen und Kindern hinterlässt, interessieren ihn nicht. Pinch liebt seinen Vater trotz alledem, hält ihn für einen ganz Großen. Er ist Papas Liebling und er allein kennt das alte Bauernhaus in Frankreich. Doch je älter er wird, um so schärfer wird sein Blick. Liebe und Bewunderung schrumpfen, Verachtung und Rachegelüste steigen auf. Und als seine Schwester Birdie, die ständig von ihrem Mann verprügelt wird, von Bear im Stich gelassen wird, kann Pinch nicht untätig zusehen und rutscht in etwas hinein …

Tom Rachman entwirft wundervolle Stimmungen in diesem Buch, Ölfarbe und Terpentin duftet zwischen den Buchstaben beim Lesen heraus, Orte erschließen sich dem Leser. Die Dialoge sitzen, sind eindringlich und ab der Mitte wird das Buch wirklich spannend und kriminell.
Fast alle berühmten Maler waren unersättliche Egoisten, wie ihre Biografien zeigen. Und die Frage, die Rachman mit diesem Roman stellt, lautet: Trägt man das Potenzial des Narzissten in sich, wird dadurch ein genialer Künstler, oder wird eine künstlerische Entdeckung durch sein Publikum zum Narzisten gemacht? Bear arbeitet wie ein Besessener, Tag und Nacht, geht an körperliche Grenzen, ist gnadenlos mit sich selbst in der Kritik. Der Glaube an sich selbst und die Besessenheit, seine unverfrorene Selbstdarstellung steckt in jedem Narzissten, und seinen wir froh, wenn er sich im Kreativen auslässt. Für diesen Roman soll der 1956 verstorbene amerikanische Action-Painter Jackson Pollock als Vorbild gedient haben. Er erkannte 17 Kinder an und war berüchtigt dafür, Bilder, die seinen Ansprüchen nicht genügten, sofort zu zerstören. Im Umgang mit Menschen war er als aufbrausend und skrupellos bekannt. Aber dieser Roman ist gleichzeitig eine Satire auf Galeristen, den Kunstmarkt und Kulturpublizisten, auf sogenannte Fachleute. Ein lesenswerter Roman, spannend und humorvoll.

Tom Rachman, geboren 1974 in London, wuchs in Vancouver auf. Er war Auslandskorrespondent der Associated Press in Rom, die ihn u. a. nach Japan, Südkorea, Ägypten und in die Türkei entsandte. Später arbeitete er als Redakteur des International Herald Tribune in Paris. Rachmans erster Roman »Die Unperfekten« wurde gleich nach Erscheinen zu einem internationalen Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in London.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris

  Wie ich mein Sternerestaurant zurückließ, in Italien Inspiration für neue Gerichte fand und mich am Ende selbst überraschte Daniel Gottschlich erhielt als erster Koch das Stipendium an der Deutschen Akademie in Rom – die bedeutendste Auszeichnung für deutsche Künstler im Ausland. Ein Koch, als Künstler? Man argumentierte mit dem von Joseph Beuys geprägtem «erweiterten Kunstbegriff», der das Kreative mit dem Künstlerischen gleichsetzt. Tage des Austauschs und der Inspiration, Stunden voller kreativer Eindrücke und künstlerischer wie musischer Erlebnisse. Im Mittelpunkt aber stand: die ausgezeichnete italienische Küche. Neben dem Reisebericht und den Eindrücken gibt es 30 Rezepte. Das erzählende Sachbuch ist eine Mischung aus Reiseliteratur und Kochbuch. Inspirierte Italienische Küche, Kulinarisches der mediterranen Küche, Lieblingsrezepte, Weltküche. Ein gelungenes Buch! Empfehlung! Rezension:   Grazie Roma von Daniel Gottschlich, Sebastian Späth und Dimitrios Katsavaris...

Rezension - Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

  Eine junge Frau aus einer Anwaltskanzlei aus der Stadt und zieht auf die Bitte von ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde, zu ihm in ein Land im hohen Norden; sie kann von dort ihren Job weiter erledigen. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten bereits die jüdischen Vorfahren der Familie; es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Eine komplexe Geschichte, Sarah Bernstein ist eine feine Beobachterin, alles ist offen; ist diese Erzählerin zuverlässig? Das Gehirn des Lesenden ist in Arbeit, viel Interpretation ist an vielen Stellen offen. Klasse! Weiter zur Rezension:    Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans