Rezension
von Sabine Ibing
Der Wintersoldat
von Daniel Mason
Der erste Satz: Sie befanden sich fünf Stunden östlich von Debrecen, als der Zug auf der menschenleeren Ebene am Bahnhof hielt.
Der 22-jährige Wiener Medizinstudent Lucius wird als Sanitätsoffizier während des ersten Weltkriegs von Wien nach Nemnowice, Galizien, in die Karpaten geschickt, nahe dem Uschok-Pass, der ungarischen Grenze. Ihm fehlen noch zwei Semester zum Abschluss und bisher hatte er seinen Focus eher auf neurologische Dinge gelegt, will später in die Forschung gehen, er hat sich für eine Universitätslaufbahn entschieden. Nun steht er hier als einziger Arzt in einem heruntergekommenen Kriegslazarett in den abgelegenen Wäldern, in das täglich mit neue Verletzte von der nahen Russlandfront eingeliefert werden. Noch nie hat er chirurgische Eingriffe geübt, amputiert. Die einzige Krankenschwester, eine Nonne namens Margarete, zeigt ihm, was handwerklich zu tun ist. Sie hatte bereits seinen Vorgänger eingearbeitet, der sich aus dem Staub gemacht hatte. Immerhin spricht Lucius neben Deutsch auch fließend Polnisch, ein wenig Ungarisch, nur das örtliche Ruthenisch versteht er nicht. Als Lazarett dient eine alte Kirche, man ist schlecht ausgestattet, aber das größte Problem sind Läuse und Ratten – denn die schleppen bekanntlich neue Krankheiten herein. Stück für Stück lernt Lucius sein Handwerk von einer Krankenschwester. Er selbst ist ins Kriegsgeschehen nicht involviert, hört nur das Grollen der Kanonen in der Ferne. So mancher Soldat, der auf den Karren herangeschafft wird, erreicht nicht mehr lebend das Lazarett und von anderen weiß man, dass sie den Tag nicht überleben werden. Die Arbeit der Helfer in der Karbolkaserne ist hart, physisch, wie auch psychisch, Nahrung ist immer knapp bemessen, besonders im Winter.
Margarete schlug die Decke wieder zurück. Der Soldat auf der Schubkarre regte sich nicht, die einzige Bewegung war das Flirren des schmelzenden Schnees auf seinem Mantel. … An seinen Lippen klebte ein Stück trockenes Gras, das sich plötzlich bewegte. Er atmete!
Stets ging ihrem Zustand ein Granatangriff auf einen Unterstand, einen Schützengraben, einen Sanitätswagen voraus. Und dann setzten die Symptome ein, manchmal erst nach Stunden: Das Zittern, das Zucken, die Lähmungen, der torkelnde Gang, die grotesken Verrenkungen der Arme.
Eines Tages landet bei ihnen ein Soldat, der körperlich völlig in Ordnung scheint, aber er bewegt sich nicht, spricht nicht. Psychische Ursachen, Schockverhalten, vermutet Lucius, den genau solche Symptome interessieren. Margarete und er kümmern sich intensiv um den Patienten und ganz langsam erholt er sich. Immer wieder fällt in das Lager ein Kommando ein, das sogenannte kampffähige Männer abtransportiert. Lucius ist verzweifelt, wenn man einkassiert, Männer die noch lange nicht halbwegs gesund sind, Amputierte, sie machen vor niemandem Halt. Der Arzt hat kein Mitspracherecht.
Inmitten eines gelben Meers aus Ackersenf und im Windschatten der Weide legten sie sich auf eine der Decken ins hohe Gras.
Eine kurze Liebesgeschichte entwickelt sich zwischen Lucius und Margarete, doch sie werden bald getrennt. Detailreich und mit historischer Präzision berichtet Anthony Doerr im geschichtsträchtigen Kontext über Orte und Landstriche, die uns kaum bekannt sind. Es befindet sich auch eine Landkarte im Inneren des Buchdeckels. Der Autor hat Medizin studiert und er ist Psychiater, schildert so kenntnisreich das posttraumatische Syndrom und Kriegsverletzungen, insbesondere hier die Verletzungen die bittere Kälte nach sich zieht. Im Russlandfeldzug starben bekanntlich in beiden Weltkriegen mehr Soldaten an Kälte, unhygienischen Verhältnissen und Unterernährung als an ihren Verletzungen. Eindrucksvoll wird auch der Zusammenhang zwischen Seuchen in Verbindung mit Läusen und Ratten dargestellt. Lucius, ein naiver junger Medizinstudent, glaubt, er wird Teil eines Ärzteteams, bestens ausgerüstet, als Assistent an die Front geschickt, wird mit der Wirklichkeit konfrontiert und muss sich schnell in seine ungewollte Rolle einfinden. Bestens theoretisch ausgebildet, nützt ihm dieses Wissen nur bedingt etwas. Der Roman gewinnt an Kraft durch die Sprache, die eine wilde Schönheit der Landschaft darstellt, die Kälte spüren lässt, menschlichen Zusammenhalt zeigt. Auf der anderen Seite wird die unbarmherzige Kriegsmaschinerie gezeigt, bei der ein Solat lediglich als Kanonenfutter fungiert. Die Charaktere sind scharf gezeichnet, blättern Menschlichkeit und Unmenschlichkeit auf, zeigen, wie weit man an Aufgaben wachsen kann. Danile Mason schafft es, schriftstellerisch Bilder einzufangen: Situationen, Landschaften und innere Zustände, die den Leser in Bann ziehen. Ein historischer Roman, der in seiner Gesamtheit beeindruckend ist.
In Lemnowice hatte Margarete ihm beigebracht, nur im Notfall zu amputieren. Nun jedoch entfernte er selbst bei einfachen Brüchen eine Gliedmaße, nur um den Soldaten die Qualen der Fahrt in einem ruckelnden Zug zu ersparen. Manchmal dachte er, das hatte nichts mehr mit Medizin zu tun; Metzelei hätte es besser getroffen. Er war zum Schlachter und Knochenbrecher geworden.
Daniel Mason, 1976 geboren, ist Schriftsteller und Psychiater, arbeitet als Assistenzprofessor für Psychiatrie an der Universität Stanford. Sein Debütroman »Der Klavierstimmer Ihrer Majestät« (dt. 2003) wurde in achtundzwanzig Sprachen übersetzt und auch fürs Theater und die Oper adaptiert. Eine Verfilmung ist geplant.
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