Rezension
von Sabine Ibing
Der Tallinn-Twist von Hoeps & Toes
«Es war schon der dritte große Fall, den Marie erfolgreich abschließen konnte, seit sie vor kaum einem Jahr den Job als freie Politikberaterin hingeworfen und bei der Europäischen Kommission in Brüssel angeheuert hatte. Mit ihren Erfahrungen, die sie beim niederländischen Inlandsgeheimdienst AIVD gesammelt hatte, war sie im Office Européen de Lutte Antifraude, kurz OLAF, mit Kusshand genommen worden. Seitdem beschäftigte sie sich im Direktorat C, Abteilung 3, mit Korruption und Subventionsbetrug.»
Marie Vos arbeitet bei der Anti-Betrugseinheit der EU in Brüssel, und so sendet die Security-Abteilung sie undercover in eine Taskforce der EU Wasserwirtschaft, die an einem Abschluss eines Vertrags in Tallinn arbeitet. Hier geht es um EU-Hilfen zur Rückholung der Wasserbetriebe an ihre Städte. Es gibt Ärger in Tallin, die EU-Gruppe kommt nicht weiter mit ihren Verhandlungen, denn sie werden blockiert. Nur wer steckt dahinter? Die Vermutung liegt nahe, dass die Taskforce selbst eine undichte Stelle hat. Wer von dieser Handvoll Mitgliedern betreibt Wirtschaftsspionage für die Russen? Marie Vos reist undercover mit der Arbeitsgruppe nach Tallinn und durchleuchtet die einzelnen Mitglieder.
«‹Hast du mitbekommen, was heute in der Stadt los ist? Unser Fall hat damit zu tun. Die EU hat vor ein paar Monaten eine Taskforce eingesetzt, um in Estland in Sachen Wasserversorgung ein Pilotprojekt zu starten. Sie soll in Tallinn dazu beitragen, dass ein privatisierter Wasserbetrieb wieder in städtische Hände gelangt. Aber jetzt ist dort ein massives Sicherheitsproblem aufgetaucht … Details folgen später.› Er nannte ihr eine Adresse und forderte sie auf, sich sofort auf den Weg zu machen.»
Der Thriller beginnt mit dem Mord an einem Mitarbeiter dieser Taskforce in Brüssel, Dennis Bahr, der unter Verdacht der Spionage steht. Seine Verhaftung stand kurz bevor und er wird nicht mehr verraten können, für wen er gearbeitet hat. Marie Vos soll getarnt als neue Assistentin der Leiterin Guiliani Licht in die Sache bringen. Angekommen in Estland tauchen skrupellose Gegner auf, die Anschläge auf einzelne Mitglieder der Taskforce ausüben und aggressive Demonstranten werden plötzlich zum wütenden Mob gegen die EU, dem die EU-Gesandten gerade noch entkommen können. Sie reisen sofort zurück nach Brüssel. Die Verhandlungen scheinen gescheitert, und die Gegenwehr der privaten Wasserunternehmen hat Wurzeln gefasst. Doch die Gruppe gibt nicht auf: Irgendwas geht immer. Für Diplomatie braucht man einen langen Geduldsfaden. Der Österreicher Fritz Aumayr ist ein Menschenverächter, leicht depressiv und er ist der Meinung, das die Menschheit sich sowieso selbst erledigen wird – wozu also gegensteuern? Ist er das U-Boot? Und was ist mit Christian, dem smarten Deutschen? Oder Portugiesin Beatriz Torres, die ein Koksproblem zu haben scheint. Die Italienerin Francesca Giuliani scheint zu den ehrenhaften Unbestechlichen zu gehören.
Marie Vos hatte eine kleine Liaison mit dem kriminellen Berend angefangen, ein charismatischer Autohändler, der mit gestohlenen Wagen handelt: «ein cleverer Schwindler mit einem guten Gespür für Grauzonengeschäfte». Der macht ihr einen Heiratsantrag – was Marie so gar nicht passt, denn genau an jenem Tag wollte sie ihm den Laufpass geben. Eine Beziehung mit Berend kann sie sich in ihrem Job nicht leisten. Sie muss ihn loswerden, vorsichtig. Dieser reiche Teddybär will Marie die Welt zu Füßen legen und er hat Angst um sie, die in Tallinn gerade einem Mordanschlag entgangen ist. Er recherchiert hinter ihrem Rücken auf eigne Faust, wer hinter den zwei Tötungsdelikten in Brüssel steckt, um herauszufinden, wer der russische Agent der Taskforst ist. Wehe, irgendjemand sollte versuchen, seiner Marie weh zu tun! Durch seine Einmischung bringt er sich selbst in Gefahr.
«Die USA isolieren sich, Kivistik und ihre Leute isolieren Estland, und wenn alle Verbindungen gekappt sind, wird Estland zur zweiten Krim.»
Ein Thriller, der aufzeigt, wie das russische System an allen Ecken versucht, Europa zu destabilisieren; in diesem Fall einen Keil zwischen die EU und Estland zu treiben. Irgendwann, so planen die Russen, im Baltikum einmarschieren, sich die Länder zurückholen – und dazu braucht es Unruhe. Die Privatisierung von Wasserrechten ist ein zweites Thema. Thomas Hoeps und Jac Toes, ein EU-Team aus den Niederlanden und Deutschland, haben einen intelligenten und spannenden EU-Thriller vorgelegt, der es einem eiskalt über den Rücken laufen lässt. Ein reales und aktuelles Szenario, bei dem sie aufzeigen, wie diverse auf Wettbewerb stehenden Interessenvertreter um die Gelder aus dem großen Topf der EU-Fördergelder kämpfen und für ihre persönlichen Zwecke verwenden wollen. Dabei beschreiben die Autoren die Arbeit der EU-Behörden und Abteilungen, die wiederum aus verschiedenen Motiven gegeneinander arbeiten und letztendlich Kompromisse ausgehandelt werden, die die Sachlage nicht immer zum Besseren bringt. Wir erleben Estland als politisch gespaltenes Land, wie viele Ostblockländer, in denen rechtsnationale und damit oft EU-feindliche Nationalisten auf dem Aufmarsch sind. In Estland leben eine Menge Russen, die teilweise auch geneigt sind, sich ihrer eigenen Nation zuzuwenden. Ein spannender Stoff, der die schwierige Arbeit der EU zeigt, wirtschaftliche und politische Probleme aufzeigt und die Versuche von Destabilisierungsversuche seitens der Russen im Visir hat. Klasse geschrieben, spannend mit einem prima Figurenaufbau. Die Figur Berend hätte man für mich herauslassen können, der extrem klischeehaft dargestellt wird – ebenso diese Beziehungsstruktur: Intelligente Frau mag dümmliches Machomuskelpakt fürs Bett. Genau das passte überhaupt nicht zur Figur Marie. So einen Quatsch können nur Männer schreiben. Insgesamt ein Thriller, wie ich ihn mag, der mitreißend ein interessantes Thema behandelt.
Thomas Hoeps (*1966) lebt und arbeitet in Krefeld. Er jobbte im DaimlerBenz-Datenarchiv, im physikalischen Labor, am Pferde-Wettschalter und als Journalist, bis er über Terrorismus in der deutschen Literatur promovierte. 1997 veröffentlichte er seinen Debütroman Pfeifer bricht aus, es folgten Gedichte, Erzählungen und ein Theaterstück. Er erhielt u. a. den Literaturförderpreis der Stadt Düsseldorf und den Nettetaler Literaturpreis. Hoeps ist Leiter des Niederrheinischen Literaturhauses in Krefeld.
Jac Toes (*1950 in Den HaagNiederlande) lebt und arbeitet als freier Gerichtsreporter in Arnheim. Nach dem Studium der Niederländischen Literatur war er als Lehrer tätig. Er engagierte sich in Arnheim in der Hausbesetzerszene und gründete 1980 einen Piraten-Radiosender. Seit 1995 arbeitet er ausschließlich als Schriftsteller und Drehbuchautor. 1998 erhielt Toes den niederländischen Krimipreis Gouden Strop für /Fotofinish. In Deutschland wurde er für sein Werk mit der Goldenen Handschelle ausgezeichnet.
Der Tallinn-Twist
Politthriller, Thriller, EU-Thriller, Estland, Tallinn
Taschenuch, 320 Seiten
Unionsverlag, 2022
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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