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Der Sprengsatz von Nicolas Searle - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Sprengsatz 

von Nicolas Searle


Der Anfang: Abu Omar stieg hinten aus dem Lieferwagen, sah sich um, rückte die Baseballmütze zurecht und setzte seinen Weg fort. Die Überwachungsteams registrierten den gehetzten Blick und die angespannte Haltung. Jake eilte zurück zur Einsatzzentrale.

Was für ein Thriller! Eine eigene Handschrift, akribisch, genau, minutiös. Ein Agententhriller mit Klasse! Geheimdienstoffizier Jake Winter simuliert mit einem V-Mann ein Attentat an einem Bahnhof, irgendwo in Nordengland. Alles ist genau geplant, jeder Schnitt des V-Manns überwacht. Abu Omar ist glaubwürdig, vertrauenswürdig – einer, der aussteigen will. Hunderte von Polizisten und Kameras überwachen jede Bewegung von ihm. In seinem Rucksack befinden sich lediglich Bücher. Doch was macht er da? Er geht auf die Toilette. Ein Offizier folgt ihm. Alles ist gut, er steht dort und pinkelt, der Raum ist leer, niemand da außer ihm. Das WC wird gescheckt. Alles ok. Hier wurde nichts versteckt, kein anderer Rucksack gefunden. Und kurz danach gibt es im Bahnhof einen lauten Knall. Abu Omar hat sich in die Luft gesprengt. Über 60 Menschen sind tot, viele verletzt. Was ist geschehen? Wie konnte das passieren? Hat Abu Omar sie hereingelegt oder wurde er selbst gelinkt?

Im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen hatte sie sich nie eine Karriere als Ärztin oder Anwältin gewünscht, auch keine Heirat mit einem reichen Geschäftsmann.« Sie war auf etwas anderes aus gewesen, hatte davon geträumt, zur Polizei zu gehen, als Detective die kniffligen Fälle zu lösen und alle in Erstaunen zu versetzen. So weit weg davon war das hier gar nicht, aber doch nicht der Beruf, den sie sich als Kind vorgestellt hatte.

Wer ist der Scheich?

Jake wird nun in die Mangel genommen, auch seine Kollegin Leila. Wo im System steckte der Fehler? Das fragen sie sich selbst, sie hatten Abu Omar vertraut. Einer muss den Kopf hinhalten, und garantiert keiner von ganz weit oben. Jake ist der Einsatzleiter, ein gutes Bauernopfer. Abu Omar hatte sich nach dem Pinkeln nicht die Hände gewaschen, das macht kein Muslim. Hier hätte er abbrechen müssen. Hätte er? – Sie haben einen weiteren Informanten, Rashid, einen Heimkehrer aus Syrien, ein Ex-Islamist. Er will seinen Kopf retten, ist raus aus dem Spiel, will mit Religion nichts mehr zu tun haben, doch der Staatsanwalt hat ihn im Würgegriff. Er ist in eine kleine Gruppe von Rückkehrern infiltriert, vier Muslim – alle bereit, für Allah zu sterben. Wirklich für Allah? Die Chance für Rashid: keine Anklage, eine neue Identität. Die Gruppe wird von einem ohne Namen geführt, den sie Scheich nennen. Rashid kann ihn schwer beschreiben, er sitzt im Schneidersitz in einem Gewand, langer Bart, er wartet bereits immer auf sie in diesem geheimen Raum und sie werden von einer Lampe geblendet, wenn er spricht. Der Scheich plant einen Anschlag: Vier Attentäter und vier Bomben – ein Fußballstadion. Diesmal darf nichts schief gehen und sie müssen an die Hintermänner herankommen. Kann man Rashid trauen? Wem überhaupt kann man trauen?

Klar. Erzähl das hinterher mal dem Untersuchungsausschuss.«
»Fühlst du dich betrogen?«
Na sicher, wurde ich ja auch. Die Frage ist nur: Von wem? Aber dafür sind wir ja da, stimmt’s? Um betrogen zu werden. Und letzten Endes tun wir das doch alle.

Wem vertrauen?

Nicolas Searle hat seinen eigenen Stil. Multiperspektiv geht er in kleinen Kapiteln in die einzelnen Protagonisten hinein. Jeder hat seine Gründe, und niemand traut keinem über den Weg. Nicht den Kollegen, nicht den Vorgesetzten, nicht den Informanten und auch Rashid ist nicht überzeugt, dass er der Polizei trauen kann. Aber das Spiel kann nur über Vertrauen laufen, sonst ist es gleich vorbei. Jake und Leila tasten sich an Rashid heran, er an sie und langsam nähern sie sich, es gibt immer etwas, was man sypatisch finden kann. Der Leser lernt alle kennen, sogar die gesamte Vierergruppe. Der Blickwinkel für den Terroristen, der ein Mensch ist, seine Gründe hat. Ein kaputtes Gesellschaftssystem. Und sehr interessant ist der gesamte Ablauf des Szenariums aufgeschlüsselt, Polizeiarbeit, Zusammenarbeit bis ins Kleinste, Planung, Kontrolle. Die Sprache ist trocken und minimalistisch, kerngenau, Dialoge im Schlagabtausch. Jeder einzelne Protagonist ist herausgearbeitet, skelettiert, in Fragmenten präsentiert, bis sich das Ganze zusammensetzt, Rückblick in das Desaster, Planung der neuen Aktion. Searle beleuchtet seine Geschichte aus allen Blickwinkeln, wechselt die Perspektive am laufenden Band, ein Psychospiel auf allen Ebenen. Ein Thriller der Extraklasse!

Jons Dreierteam hatte man den Verdächtigen Romeo zugewiesen, der eigentlich Rashid hieß. Auf dem Foto wirkte er so unschuldig, aber das taten sie alle, selbst die Attentäter auf den Märkten in Kabul. Einem Foto würde er bestimmt nicht vertrauen.

Nicholas Searle ist in Cornwall aufgewachsen und studierte Sprachen in Bath und Göttingen. Er machte Karriere im Öffentlichen Dienst, erst in seiner Heimat, dann in Neuseeland. 2011 kehrte Searle nach England zurück, nahm seinen Abschied vom Staatsdienst und begann zu schreiben. Ein Geheimnis umrankt seine Tätigkeit beim Staat: Er darf nicht sagen, wo er gearbeitet hat, noch was seine Aufgabe war … – was auch immer es gewesen ist, er schreibt Geheimdienst-Thriller – und so liegt es machem nah, zu vermuten … Denn eins ist klar, was er schreibt und wie er es beschreibt, legt nahe, dass er sich zumindest im ganzen Prozedere der Abläufe auskennt, Bauernopfer, Misstrauen, behördlicher Alltag, Polizeiabläufe. Sein Debütroman «Das alte Böse» wurde von der Kritik international gefeiert, er wird derzeit mit Helen Mirren und Ian McKellen verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Yorkshire.


Nicholas Searle
Der Sprengsatz
Thriller
übersetzt von Jan Schönherr
Kindler Verlag, 303 Seiten

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