Direkt zum Hauptbereich

Der rote Swimmingpool von Natalie Buchholz - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Der rote Swimmingpool 

von Natalie Buchholz


Der Anfang: Aus der Urteilsbegründung:   Der Angeklagte wird zu hundertzwanzig Arbeitsstunden verurteilt, die in der Altenpflege abzuleisten sind. Damit wird dem Vorschlag der Jugendgerichtshilfe stattgegeben. Von einer Freiheitsstrafe wird abgesehen, da der Angeklagte geständig ist, Reue zeigt und sich seines Fehlverhaltens bewusst ist.

Das Buch hat mich um den Schlaf gebracht, es musste beendet werden, bis in die Morgendämmerung. Der Roman ist dem Genre Allage zuzuordnen, denn die Geschichte um den 18/19-jährigen Adam spricht garantiert Jugendliche ab 15 an und Großmütter wie ich, finden die Geschichte ebenso spannend. Eine kurze Zeitspanne in Adams Leben lässt für ihn die Welt zusammenbrechen. Die Geschichte beginnt mit einer Verurteilung zur Sozialstrafe durch einen Jugendrichter, Adam muss im Pflegebereich 120 Stunden abarbeiten. Das macht er ziemlich gut. Fein schildert Natalie Buchholz Adams Arbeitsalltag in der häuslichen Pflege, sein behutsames Umgehen mit den Senioren beim Waschen. Dieser Strang spielt im Jetzt, Adam ist 19, er will Medizin studieren, sein Abi ist entsprechend gut ausgefallen. 

Das Knirschen der Kieselsteine, auf die ich trat, als wir das Grab verließen, kam mir lauter vor denn je. Ich versuchte, so zu gehen, dass meine Schritte nicht zu hören waren, doch es half nichts. Die Kiesel knirschten in meinem Kopf, und der wütende Gesichtsausdruck meiner Mutter vor dem Grab ihrer Schwester knirschte mit. Ich dachte daran, was sie am Abend zuvor zu meinem Onkel gesagt hatte. Dass mein Vater nicht mehr mit ihr spreche. Dass sie glaubte, sie würden nicht mehr zueinanderfinden.

Eine perfekte Familie

Der zweite Strang spielt in der Vergangenheit. Wir erfahren etwas über eine perfekte Familie. Alle Freunde beneiden Adam, denn deren Eltern sind entweder geschieden, oder schreien sich nur noch an. Adams Mutter stammt aus Frankreich, sie hat diesen süßen Akzent und sie ist wunderschön, sie entwirft Mode. Der Vater arbeitet erfolgreich als Unternehmensberater, beruflich ist er viel unterwegs, und er liebt seine Frau unendlich. Für sie hat er dieses Haus gekauft, einen Pool bauen lassen, denn sie vermisst das Meer und die Sonne, Frankreich. Die Fliesen des Pools sind rot wie der Sonnenuntergang. Die Mutter zieht täglich ihre Bahnen, schon hier auffällig, wie sehr der Pool auf die Mutter zeigt, nicht auf den Sohn, bzw. auf einen Familienspaß. Es gibt feste Rituale zwischen Vater und Mutter und Vater und Sohn, wenn der Vater von einer Dienstreise nach Hause kommt. Doch diesmal ist es anders. Der Vater bringt zwar etwas mit, doch das Ritual ist gebrochen, ein Sprung in der Schüssel. Und dann ist der Vater wieder weg, kehrt diesmal nicht zurück. Es kommt noch viel schlimmer, die Mutter und Adam müssen ausziehen, der Vater zieht mit einer neuen Frau in Adams Heim ein, zusammen mit zwei kleinen Mädchen. 

Adam hat nur noch Tom

Adam versteht die Welt nicht mehr, kurz vor seinem Abitur prasselt alles auf ihn ein: Die Tante verstirbt, Vater und Mutter lassen ihn im Stich. Gestern alles heile, heute alles kaputt. Warum? Niemand redet mit ihm. Die Mutter zieht nach Paris, er könne nach dem Abitur folgen. Sie lässt ihn einfach zurück. Der Vater antwortet nicht auf Mails, SMS, bricht den Kontakt ab. Warum? Adam zieht in eine WG, beobachtet das alte Haus, sieht den Einzug der neuen Familie, sieht den Vater, der liebevoll mit den »neuen Mädchen« umgeht, mit der neuen Frau. Der Vater weigert sich, mit Adam zu reden, später, irgendwann, er braucht Abstand, muss sich neu sortieren. Adam hat nur noch Tom, seinen besten Freund. Gestern von allen geliebt, heute von allen verlassen. 

Natalie Buchholz beschreibt wundervoll, im Rückblick wie Adam seine Eltern beobachtet, wenn der Vater nach Hause kommt: Sie im Pool, er am Beckenrand, wie zwischen ihnen die Sonne aufgeht, wenn der Vater die Mutter küsst. Im Subtext lauern die ersten Vorboten, feine Beobachtungen, hier ziehen Wolken vor die Sonne. Rot ist die Liebe, rot ist das Feuer, das alles verbrennt. 

Immer wenn es emotional wurde, wurde er sachlich. (Tom)

Auch im Coming-of-age von Adam gibt es viel Subtext, Erwachsenwerden auf allen Ebenen und Wut im Bauch, weil Adam nichts versteht. Die Autorin wechselt von Kapitel zu Kapitel zwischen den beiden Strängen: Was war und wie geht es weiter. Der Leser vernimmt gleich auf der ersten Seite, Adam hat etwas angerichtet und es war ziemlich heftig. Erst am Ende erfährt man, was genau passiert ist, Häppchen für Häppchen führt die Autorin dorthin, durch den Rückblick versteht man Adam, seine Wut. Geschickt konstruiert ist die doppelte »Liebesgeschichte«. Die Eine war, verwelkt, entwickelt sich zur Katastrophe. Im zweiten Strang blüht eine Liebe auf, Adams erste Liebe zu Tina und es blüht in ihm Verantwortung auf, loszulassen von den Eltern, für sich selbst verantwortlich zu sein, auch für andere, die Senioren, und er lernt seine Wut zu zügeln. Tom, der beste Freund von Adam, das Gegenteil zu dem emotionalen Adam, hilft ihm, mit seiner nüchternen Art, sich zu erden. Tina, die Unkonventionelle, die Adam hilft, sich abzunabeln, fein gewählte Figuren, die dem Roman die richtige Würze geben.

All age – all Gender

Jugendlich frech, eine klare Sprache, schnörkellos, Natalie Buchholz startet mit ihrem Debüt gefällig in Sprache und Aufbau. Präteritum und Präsens wechseln in den Strängen. Im Subtext wundervolle Andeutungen auf das, was kommen wird, eine Sprache voller Symbolik. All age – all Gender – hier ist für ziemlich jeden Leser etwas drin. Familienkatastrophe, so etwas kennt jeder. Hätten wir geredet, hätten wir verstanden. Nach einem Bruch will jeder seinen Weg gehen, sich neu orientieren, neu anfangen, das Alte hinter sich lassen. Und mitten drin stehen die Kinder, die nichts verstehen, diesen Bruch nicht akzeptieren. Man will nicht schlecht über den anderen reden – oder genau das. Man versteht selber nicht, wie alles hat passieren können – oder ist froh, dass nun alles ein Ende hat. Man ist verletzt, verlassen, verstört, zerstört – oder happy, endlich frei atmen zu können. Mit den Kindern will niemand reden, sie nicht verletzen, sie verstehen das sowieso nicht, man versteht es ja selbst nicht. Aber genau das ist falsch. Kinder und Jugendliche sind nicht dumm, sie wollen verstehen, zumindest wollen sie eine Erklärung. Ein Roman, der eigentlich alle angeht, der einen Sog entwickelt, spannend in der Handlung, doch tief in seiner Emotion und Aussagekraft. 

Ich freue mich auf den nächsten Roman von Natalie Buchholz.





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees

  Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Bewegung, Physiotherapie und Sport statt herumsitzen! Ein interessantes Sachbuch, logisch in der Erklärung, ein mittlerweile erfolgreiches, erprobtes Konzept. Weiter zur Rezension:    Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz...