Rezension
Sabine Ibing
Der freie Hund
von Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo
Commissario Morello ermittelt in Venedig
Erste Seite: Cazzo›
‹Die Augen immer noch geschlossen, tastet er mit der rechten Hand nach dem Handy, das irgendwo auf dem Nachttisch liegen muss. Er zieht es unter die Decke und starrt auf das erleuchtete Display. Sechs Uhr.
Zu früh zum Aufstehen, zu früh zum Frühstücken, zu früh zum Schimpfen, zu früh für alles.
Antonio Morello erwacht von den Kirchenglocken in Venedig – nicht wie gewohnt in Cefalú. Sein erster Tag in Venedig. Sie hatten ihn versetzt, weil er auf Sizilien auf der Todesliste der Mafia steht, man um sein Leben bangt. Er hatte Mafiabosse und Politiker hinter Gitter gebracht. Hier in Venedig ist er sicher. Aber was will er hier? Ein Süditaliener soll ein Kommissariat in der Touristenstadt im Veneto führen, schlimmer kann es nicht kommen. Auf seinem Weg zur Arbeitsstelle, vorbei an Touristenattraktionen, beobachtet er eine Demo gegen Kreuzfahrtschiffe, erwischt einen Taschendieb bei der Arbeit und nimmt die Verfolgung auf. Und beide landen dabei im Canale Grande. Am ersten Tag erscheint er deshalb zu spät zur Arbeit bei der Mordkommission – typisch Süditaliener – nie pünktlich. Große Sympathie schlägt ihm nicht entgegen, und außerdem hatte sich mindestens einer dieser Truppe ausgemalt, seinen Sessel zu besetzen.
Ein Verdächtiger ist schnell gefunden
Etwas Gespenstiges, Riesiges drängt sich durch die Lagune. Ein Monster, größer als alles, was Morello je gesehen hat. Ist das noch ein Schiff? Cazzo! So groß wie ein Wolkenkratzer! Der Dogenpalast und der Campanile wirken plötzlich klein wie Spielzeug neben dem Monster aus Stahl.
Gleich am nächsten Tag liegt der erste Mordfall auf dem Tisch: Francesco Grittieri, ein Student aus betuchtem Haus einer venezianischen Patrizierfamilie, der Anführer der Bürgerinitiative gegen die Kreuzfahrtschiffe – dem hatte Morello bereits tags zuvor zugehört, ein charismatischer junger Mann. Wer hat ihn erstochen? Eifersucht, ein politischer Akt, oder was steckt dahinter? Schnell ist ein Täter gefunden. Der beste Freund des Toten wird verdächtigt: Einer der seine Freundin an Francesco abtreten musste, mit dem er intern über den Weg der Bürgerinitiative gestritten hatte. Er wollte moderat einen Hafen zustimmen, Francesco gnadenlos die Einfahrt der Riesenschiffe gänzlich verbieten. Allerdings kann der junge Mann Morello auf dem Kommissariat entwischen, cazzo. Die Tatwaffe wird bei der Hausdurchsuchung gefunden, doch der Student ist abgetaucht. Alles klar, sagte die Abteilung, der Chef will die Akte schließen, sobald man ihm habhaft wird. Morello wäre aber nicht der freie Hund, wenn er damit zufrieden wäre. Der junge Mann macht auf ihn einen glaubhaften Eindruck und einen intelligenten. Der wäre nicht so dumm, das blutige Messer zu Hause zu verstecken. So einfach läuft es in der Regel nicht. Nur wie bekommt Morello die Truppe auf seine Linie?
Im Mittelpunkt steht Venedig
Was für eine Drecksbrühe. Wo ist er hier hingeraten? Das Wasser ist nicht tief, trotzdem kann er nicht bis auf den Grund sehen. Die Brühe ist undurchdringlich – und sie stinkt. Angewidert geht er weiter. In den Wellen schaukelt eine alte Zeitung. Die Strömung versucht vergeblich, die Titelseite umzublättern. Daneben treiben eine Plastikflasche und ein gebrauchtes Kondom.Der Roman ist süffig zu lesen, hat politisches Format – ganz Schorlau – aber doch nicht ganz Schorlau, von ihm ist man Besseres gewohnt. Klare Empfehlung an Regio-Krimifans, an Venedig-Liebhaber, keine Frage. Im Mittelpunkt steht Venedig. Der Massentourismus überrollt die Stadt, die Gentrifizierung ist für die Einheimischen ein großes Thema. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die monströsen Kreuzfahrtschiffe mit der Verdrängung riesiger Wassermassen die Lagunenstadt auszuhöhlen und irgendwann die Pfähle, auf der die Häuser gebaut wurden, zum Einsturz zu bringen. Luftverschmutzung, usw, ein weiteres Thema – schon immer war Venedig autofrei, trotzdem ist es heute durch die Kreuzfahrtschiffe eine der schmutzigsten Städte Europas. Die Touristen bringen Geld, nur wem? Sie bringen Arbeitsplätze, ein prekäres Thema. Das Vorurteil des faulen Süditalieners … Und natürlich hat wieder mal die Mafia die Finger im Spiel. Der Süditaliener erklärt den Norditalienern seine Heimat, die Mafia und warum der Süden sich schon lange von Rom verabschiedet hat. Die Venezianer erklären Venedig. Das alles ist fein zusammengefügt mit dem Kriminalfall und macht eigentlich Spaß zu lesen. Doch streckenweise fand ich den Text nervig. Und genaugenommen rollt der Mordfall leise nebenbei daher, so richtige Spannung kommt nicht auf und Morello ist der Typ, der alles im Griff hat, über den Dingen schwebt, versteht, was die anderen in ihrer Naivität nicht sehen. Die Figur war mir zu einfach gestrickt, zu grobmaschig übergestülpt.
Inselbesichtigung inklusive aller Kirchen und Gemälde
Antoniu commu Stai? Wie geht es dir?›
‹mamma tutt´appostu cca. Mamma, alles gut hier.›
‹Taliaju u teleggiurnali e ddici ca nto cuntinenti fa friddu! Acummogghititi raccumannu! Ich habe die Wettervorhersage im Fernsehen gesehen, und sie haben gesagt, dass es kalt ist dort im Norden! Deckst du dich nachts gut zu? Versprich es mir.
Lesbar – aber … Schorlau kann spannender, ganz klischeefrei und ohne Romantik, mit gut ausgearbeiteten Figuren. Das alles hat er hier nicht gezeigt. Die anderen Bücher gefallen mir wesentlich besser. Was über Venedig gesagt wird, ist altbekannt. Gefallen hat mir, wie der Süden dem Norden und umgekehrt, gegenseitig Mentalität und Geschichte nahebringen will – ein Stück zusammenrücken. Am Anfang war ich etwas irritiert: Metergenau marschiert Morello zur Arbeit, mit allen Sehenswürdigkeiten als Zugabe, rechts in die Calle X, vorbei an Gebäude Y, über die bekannte Brücke über Kanal Z, links in die Calle A. Jesses, dachte ich, bin ich in einem Reiseführer gelandet? Das geht glücklicherweise nicht so weiter – taucht aber wieder an einigen Stellen auf. Für mich ein wenig nervig. Die Romanze hätte es im Plot nicht gebraucht. Morello fährt mit seiner Nachbarin Silvia auf die Insel Giudecca und es folgt 12 Seiten eine Inselbesichtigung inklusive aller Kirchen und Gemälde, was abgeschrieben aus dem Reiseführer erscheint. Das schmeißt den Leser aus dem Krimi. An manchen Stellen walzen die Autoren auch die kulinarischen Beschreibungen arg aus – folgt eine Routenbeschreibung, kegelt es den Leser aus dem Krimi heraus. Und was mich richtig aufgeregt hat, ist der Sprachen-Chi-Chi, siehe oben Zitat. Wolfgang Schorau steht für mich eigentlich für gute Dialoge. Morello kann cazzo, fast hinter jedem Satz. Zu übersetzen mit Sch… oder dem amerikanischen fu… – In Norditalien ist solche Ausdrucksweise primitiv, wie viele Schimpfonaden der Süditaliener. Morello wirkt so unglaubwürdig, in seinem Bemühen, sich Freunde zu machen. Sagt ein sizilianischer Kommissar wirklich dauernd cazzo? In der italienischen Literatur jedenfalls nicht. Wir sind hier in einem italienischen Krimi – Italiener unterhalten sich auf Italienisch – für den Leser natürlich Deutsch. Und warum werden hier am laufenden Band italienische Sätze eingefügt? Und damit es auch richtig logisch klingt, plappert der Protagonist wie ein Papagei zweisprachig. Klar, der dumme Leser würde das sonst nicht verstehen. Und hier geht es nicht nur italienisch zu, die Mama redet sizilianisch, klar (siehe Zitat oben). Das sind Cazzo-Dialoge!
Lieber Wolfgang Schorlau, ich lese lieber deine «deutschen» Krimis weiter, von denen ich ein großer Fan bin, ganz ohne Romantik, Chi-Chi und touristischem Routenverlauf. Atmosphäre kann man anders schaffen – echte Atmosphäre im Regiokrimi. Ich lese lieber weiter Italiener, die folgerichtig übersetzt werden, ohne Papageisprache und Touriunterbrechungen – die echten Flair ihrer Heimat herüberbringen und spannende Plots bieten. Das ist meine persönliche Meinung. Wer allerdings den Krimi lediglich als Nebensache erachtet, viel Reiseliteratur sucht, der liegt mit diesem Buch richtig. Denn trotz aller Kritik hat der Plot ein gewisses Niveau.
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den neun «Dengler»-Krimishat er die Romane «Sommer am Bosporus» und «Rebellen» veröffentlicht. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner Stolz Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet, u. a. für «Die schützende Hand».
Claudio Caiolo wurde ein Sizilien geboren und besuchte 1988 bis 1993 die Theaterschule Avogaria in Venedig. 1996 zog er nach Stuttgart und gründete mit Holger Krabel die Theatergruppe LaoTick und schrieb, inszenierte und spielte viele Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Zusammen mit Stefan Jäger schrieb er mehrere Drehbücher für Filmproduktionen.
Wolfgang Schorlau, Claudio Caiolo
Der freie Hund
Commissario Morello ermittelt in Venedig
Krimi, Regiokrimi
336 Seiten, Paperback
Kiepenheuer & Witsch, 2020
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