Direkt zum Hauptbereich

Der Feuerturm von Catalin Dorian Florescu - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Feuerturm 


von Catalin Dorian Florescu


Der Anfang: 

Der Wald umschloss die kleine Stadt wie eine Faust. Ob es die Hand Gottes war oder die des Teufels, wusste niemand so genau. Wenn die Bewohner wieder einmal unsicher waren, bauten sie eine weitere Kirche aus dem Holz des Waldes, der großzügig ihren Glauben stützte. Sie schmückten sie mit Ikonen, weihten sie und fühlten sich beschützt, für eine Weile.

Es war Eichenholz, hart und belastbar, aus dem hier fast alles bestand: die Palisaden der Festung, die auf einem Plateau über dem Fluss Dâmboviţa thronte, der Belag der Uliţa Mare, der einzigen Gasse, die diesen Namen überhaupt verdiente; die Dachschindeln der schäbigen Häuser, wenn man sich so etwas leisten konnte – ansonsten reichte auch Schilf –, die Wiegen der Neugeborenen und die Särge der Toten.


Als er 1892 errichtet wird, ist der Feuerturm von Bukarest das höchste Gebäude der Stadt. Der Ich-Erzähler, Victor Stoica, gehört zu einer Familie, die seit Generationen Feuerwehrmänner stellt und in der Nähe vom Turm lebt. Er ist der Erste, der mit dieser Tradition bricht, Geschichte studiert. Victor, Opfer der Diktatur, der denunziert wird und für zehn Jahre in Foltergefängnisse und Straflager verurteilt wird, verraten vom besten Freund, der nun beim Geheimdienst Securitate arbeitet. Und auch der Bruder fällt ihm vor Gericht in den Rücken. Nach dem Gefangenen-Martyrium erlebt Victor 1989 den Volksaufstand, hofft nun auf Freiheit und ein besseres Leben. Der historische Roman fasst gut recherchiert ein Jahrhundert zusammen, Nationalismus, Liberalismus, Faschismus und Kommunismus, wechselnde Regierungen und Katastrophen, Kriege – ein Bild von der Vielvölkermetropole Bukarest um 1900 beginnend, mit dem Untergang der jüdischen Gemeinde bis zur Beendigung der Diktatur durch Ceausescu («goldene Zeit der Denunzianten»). Ein Familienroman, die Stoicas, fünf Generationen Bukarester Feuerwehrleute, eine Geschichte, die von Freundschaft, Verrat und Liebe handelt. Die Geschichte Rumäniens.


Man verliert schnell den Überblick


Feuerwehrmann zu sein, ist ein ehrenwerter Beruf … Aber wir sind auch Soldaten, und wenn man uns
etwas befiehlt, gehorchen wir.


Ein spannender Anfang über die Siedlung, aus der eine Metropole entstehen wird, weiter in den Jahrhunderten, hinübergehend zur Familie der Feuerwehrmänner. So sehr der Anfang reizt, sich mit der Familie die Tonalität sich wandelt, muss ich zusammenfassend sagen: Ich habe mich durch den Roman durchgekaut, immer mal wieder quergelesen. Es geht kreuz und quer zwischen den Generationen und man verliert schnell den Überblick. Victor Stoica bricht aus zwei Gründen mit der Familientradition: Feuerwehrmann zu sein ist nicht sein Traumberuf, noch weniger kann er sich damit identifizieren, zu gehorchen. Im Gefängnis sitzend denkt er zurück an seine Ahnen.


 Historisch interessant – die Geschichte Rumäniens


Wir haben früh gelernt, bei Carol II., bei Antonescu, vielleicht noch früher, bei den Großgrundbesitzern, den Osmanen, den Russen, den Habsburgern, den Ungarn, wie wertvoll es ist zu schweigen. Es rettet Leben, in erster Linie das eigene. Sich zu ducken, in die Wälder zu flüchten, sich unsichtbar machen, klagen, ohne sich aufzulehnen, sich mit teuflischen Verhältnissen zu arrangieren, das hat dafür gesorgt, dass wir zwar erobert, aber nicht ausgelöscht wurden.


Ein Ururgroßvater, der glaubt, im Alleingang die Stadt gerettet zu haben, die Urgroßmütter Ecaterina und Agape mit großen Herzen, nehmen streunde Kinder auf und verstecken Menschen, Militärdiktatur und Judenverfolgung unter Antonescu – die Männer funktionieren, erledigen das, was der Staat befielt. Der Umbau Bukarests mit Monumentalbauten und Hochhäusern unter Ceausescu («mit den Kommunisten verschwand auch der Charme»), die starke Religiosität und Heiligenverehrungen der Frauenfiguren, die vielen Kirchen; Bericht aus den Gefängnissen, aus den Folterkellern – rumänische Geschichte pur. Mit viel Humor straffen Anekdoten Historisches zusammen. Die Komik versiegt unter der Diktatur wie das Essen im Kochtopf – geduckt schleicht man durch die Gassen, um nicht aufzufallen. Folter und Gefängnis trifft die, die zu laut denken. Andere finden Gefallen an der Macht der Unterdrücker. Es gibt stimmungsvolle Augenblicke, wunderbare literarische Szenen, Ungesagtes, versteckt hinter Offensichtlichem, das reizt – aber insgesamt konnte der Roman mich nicht packen. Momente, die mich als Leserin hineinfallen lassen, um dann wieder herauskatapultiert zu werden – Interessantes, Historisches auf jeden Fall. Alles in allem wird mir zu sehr gesprungen in den Zeiten; Erinnerungen hier und da, anekdotenhaft präsentiert – der Fluss der Geschichte hat mir hier gefehlt. Rumänische Sätze ohne Übersetzung – ein spärliches Glossar  – waren auch nicht hilfreich. Historisch interessant, die Geschichte Rumäniens zu begreifen; im Lesefluss recht mühsam.


Mochten Armeen gekommen sein und die Stadt zermalmt haben, mochten Flugzeuge am Himmel aufgetaucht sein und sie in eine Kraterlandschaft verwandelt haben, mochten Rotarmisten oder Grünhemden sie terrorisiert haben, mögen die Kommunisten Bukarest verunstaltet haben, möge der Mensch vor Hunger und Unglück kriechen, der Turm würde alles stumm und gelassen erdulden. Denn alles schien ein Verfallsdatum zu haben, nur er nicht.


Catalin Dorian Florescu ist 1967 in Rumänien geboren und hat seine Kindheit in der kommunistischen Diktatur verbracht. 1982 schaffte es die Familie, sich in den Westen abzusetzen. Seitdem wohnt der Autor in Zürich, wo er Psychologie studierte. Für mehrere Jahre arbeitete er im Bereich der Drogenabhängigkeit und ließ sich in Gestalttherapie ausbilden. Seit Dezember 2001 lebt er als freier Schriftsteller. Im Jahr 2019 war er als «literarischer Matrose» auf der Donau unterwegs. Seit einem Jahr arbeitet er wieder therapeutisch. Er hat u.a. sieben Romane geschrieben – eine Auswahl: «Wunderzeit», «Zaira», «Jacob beschließt zu lieben», «Der Mann, der das Glück bringt», bis auf das Erste alle im Verlag C.H.Beck. Wichtigste Literaturpreise: Schweizer Buchpreis 2011, Anna Seghers-, Josef von Eichendorff- und Andreas Gryphius-Literaturpreis. In Rumänien wurde ihm die Kavaliersmedaille für kulturelle Verdienste verliehen.



Catalin Dorian Florescu
Der Feuerturm
Historischer Roman, Rumänien, Bukarest, Antonescu, Ceausescu, Diktatur
Hardcover, 358 Seiten
C.H. Beck Verlag, 2022





Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Ambivalenz von Amélie Nothomb

  Eben noch war Claude mit Reine im Bett. Beim Anziehen erklärt sie, sie würde ihn für den erfolgreicheren Jean-Louis verlassen; eiskalt sie offeriert ihm, der habe mehr zu bieten. Claude schwört, sich an Reine zu rächen. Claude heiratet Dominique; Frau und Tochter interessieren ihn nicht, er hat andere Pläne. In Zeitraffern und Extrakten teilt der Leser das Leben der Familie – hier geht es um Liebe, Rache und Vergeltung auf mehreren Ebenen, die radikale Bloßstellung menschlicher Ruchlosigkeit. Feiner kurzer Roman! Weiter zur Rezension:    Ambivalenz von Amélie Nothomb

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

  Der Vater des 11-jährigen Nachwuchs-Zauberkünstler Lenny ist Antiquar. Die wertvollsten Bücher hält er im Tresor verschlossen. Das eine will er nun verkaufen, es ist ziemlich viel wert. Es sei ein uraltes, wertvolles Zauberbuch. Lenny glaubt, es können ihm weiterhelfen, berühmt zu werden; und so stibitzt er den Band, nur ausgeliehen! Was soll denn schon passieren? Doch dann wird Lenny selbst bestohlen! Wer könnte es auf das alte Buch abgesehen haben? Spannend, turbulent, witzige Dialoge. Lesespaß ab 10 Jahren.  Weiter zur Rezension:    Der Rückwärtsdieb - Mehr als nur ein Trick! von Ulrich Fasshauer von Ulla Mersmeyer

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

In diesem hochwertigen Pappbilderbuch wird der Klassiker «Die Schatzinsel» in Reimform erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Suche nach einem Piratenschatz, bei der der Junge Jim eine Hauptfigur ist; ebenso eine Schatzkarte. Ich war ja ehrlich gesagt skeptisch, ob man einen dicken, spannenden Roman in eine kurze Reimform bringen kann. Das ist gelungen. Spannendes Bilderbuch ab 3 bis 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Schatzinsel von Sebastià Serra, nach Robert Louis Stevenson

Rezension - Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Dieses Sachkinderbuch bietet viel Hintergrundwissen zur Mittelmeerregion. Das Buch entführt uns zu Zeugnissen großer Kulturen, Geografie, Geschichte, die Geschichte ihrer Besiedlung und lädt uns ein, ein die Tiefe der Unterwasserwelt zu tauchen. Die mediterrane Region ist aber nicht nur ein Urlaubsort: Schon seit über 42 000 Jahren leben Menschen am und vom Mittelmeer, mit einer 46.000 Kilometer langen Küstenlinie und 521 Millionen Menschen, die in den 24 angrenzenden Staaten leben. Eine runde Information, grafisch hervorragend begleitet, ein Kinderbuch ab 9 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Mittelmeer: Tauche ein in die mediterrane Welt von Katharina Vlcek

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder