Direkt zum Hauptbereich

Der Attentäter von Ulf Schiewe - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Attentäter 


von Ulf Schiewe


Der Anfang: Um ihn herum die Menge der Schaulustigen. Alles blickt erwartungsvoll in die gleiche Richtung. Er drängt sich vor, nähert sich dem Rinnstein, dort, wo man der heranfahrenden Fahrzeugkolonne am nächsten ist.

Ulf Schiewe kannte man bisher als Abenteuer-Haudegen-Historomane-Autor. Seine bisherigen Bücher waren zwar mit historischem Hintergrund, spannend, wie die Normannenreihe, aber gingen nie ins historische Detail. Sein neuer Roman schlägt ganz aus der Art, beschäftigt sich mit einer neueren Zeit, ist fein historisch recherchiert und fast minutiös an die Ereignisse geknüpft. Ein reifer Ulf Schiewe in Stil und Sprache, bisher mit Abstand sein bester Roman!

Historischer Hintergrund

Juni 1914. Franz Ferdinand, Thronfolger Österreich-Ungarns, soll als Generalinspektors der Armee einem Militärmanöver in Bosnien-Herzegowina beiwohnen, mit seiner Frau Sophie in Sarajewo öffentlich auftreten, auch noch am 28. Juni, dem serbischen Gedenktag an die Schlacht auf dem Amselfeld. Bei seiner Autofahrt durch die Straßen kann das Thronfolgerpaar einem Attentat durch eine Handgranate gerade noch entgehen. Doch sie begeben sich kurz danach wieder in die Menge, und der 19-jährige Schüler Gavrilo Princip erschießt den Erzherzog und seine Frau mit zwei Pistolenschüssen. Die Herzogin in den Kopf geschossen, stirbt sofort, der Thronfolger, an der Halsvene und der Luftröhre getroffen, verblutet kurz danach. Die Untergrundorganisation «Mlada Bosna» und die serbische Geheimorganisation «Schwarze Hand» hatten zu diesem Zweck junge Revolutionäre angeworben und ausgebildet. Österreich-Ungarn setzt nun Serbien stark unter Druck, stellt Bedingungen, setzt ein Ultimatum. Die Serben gehen nicht darauf ein. Mit deutscher Rückendeckung erklärt Österreich-Ungarn Serbien am 28. Juli 1914 den Krieg. Durch die Bündnisverpflichtungen der damaligen Großmächte wird so der Erste Weltkrieg ausgelöst.

Die Zeit vor dem Attentat

Ulf Schiewe erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven von der Zeit vor dem Attentat, sieben Tage bis zum Attentat, sieben Kapitel, das erste beginnt am Montag, den 22. Juni 1914. Ein historischer Roman im Präsens – ungewöhnlich, aber hier passt es perfekt. Die Ereignisse führen zu dem bekannten Attentat hin, alle Beteiligten sind nervös und das Präsens gibt Tempo, ebenso die wechselnde Perspektive innerhalb der Kapitel. Leider wird das Tempo wieder gebremst, wenn der Autor in ausufernden Erzählmodus fällt, insbesondere, wenn es um die Herzogfamilie geht. Schade. Dem Roman hätte es gutgetan, wenn man ihn um Einiges gekürzt  hätte, um mehr Spannung aufzubauen. Trotz der Längen ist der Roman sehr gelungen, was an dem Figurenaufbau liegt! So wechseln in den Erzählsträngen die Vorbereitungen der Attentäter mit den Schutzmaßnahmen des Geheimdienstes ab und allem, was die Familie des Thronfolgers erlebt. Historische Zeitungsausschnitte zum Zeitgeschehen am Beginn des Kapitels runden ab.

Alles will gut vorbereitet sein

Mit dem Kleiderbündel unter dem Arm geht er ein kurzes Stück am Waldrand entlang. Dann bleibt er stehen und winkt ihnen zu. Im spärlichen Licht der Nacht wirken seine nackten Beine ausgesprochen weiß, das dunkle Dreieck der Schamhaare und der Penis zwischen den Schenkeln wie eine bleiche Wurst.

Die Charaktere sind Ulf Schiewe gut gelungen. Der eine Erzählstrang beschäftigt sich mit der Mlada Bosna, der serbisch-nationalistische Organisation junger bosnischer Serben, die für ein vereinigtes Großserbien kämpfen – und sei es mit Gewalt. Der neunzehnjährige Gavrilo Princip und seine beiden gleichaltrigen Freunde Nedeljko und Trifko gehören dazu. Vier junge Männer werden durch den serbischen Geheimbund Schwarze Hand professionell für den Anschlag ausgebildet, wie wir gleich im ersten Kapitel erfahren, ein szenisches Üben mit großem Aufwand. Das Attentat soll gelingen! Jeder der Männer trägt eine Zyankalikapsel dabei, um Suizid zu verüben, sobald der Thronfolger erledigt ist. Nun gilt es noch, die Burschen unerkannt über die gut bewachte Grenze zu bringen. Die Nerven liegen blank.

Der Geheimdienst ist ihnen auf der Spur

Majors Rudolf A. Markovic gehört dem österreichisch-ungarischen Geheimdienst in Sarajevo an. Markovic und Hauptmann Heribert Simon haben über ihre Kanäle erfahren, das wahrscheinlich ein Attentat geplant ist und versuchen herauszubekommen, was genau geplant ist und wer die Attentäter sind. Fiktive Figuren, die dem Buch die Spannung geben.

Die Polizei versagt auf ganzer Linie

Wenn es denn so wäre Hoheit. Mehr als die lokale Poliezei steht leider nicht zur Verfügung. Feldzeugmeister Potiorek hat die Armee aus der Stadt verbannt. Wir sollen nicht als Besatzungsmacht auftreten, sagte er. Er will fröhliche Menschen auf den Straßen, die Eure Hoheit mit Begeisterung zujubeln, und keine Soldaten.

Der Feldzeugmeister und Landeschefs von Bosnien-Herzegowina, Oskar Potiorek, ist eine historische Figur. Dem kam es gar nicht in den Sinn, dass es irgendjemand auf Franz Ferdinand abgesehen haben könnte, obwohl es genug Beispiele gibt, bei denen auf hohe Persönlichkeiten ein Attentat verübt wurde. Und nachdem der erste Anschlag misslingt, lässt man den Thronfolger weiter im offenen Auto durch die Gassen ziehen …

Eine erkämpfte Ehe in Liebe

Ein letzter Strang befasst sich mit der Familie des Thronfolgers. Franz Ferdinand wollte Sophie Gräfin Chotek heiraten, was seiner Familie überhaupt nicht passte, ihm verbot unter Stand zu heiraten. Aber jahrelang hielt er an dem Wunsch fest, energisch, bis sein Vater endlich die Hochzeit erlaubte. Das Paar hielt sich oft im Jahr in Schloss Konopiště in Böhmen auf, da Sophie in Wien nicht erwünscht war – selbst das Dienstpersonal behandelte sie mit Missachtung. Zur Hochzeit sagten viele Würdenträger ab, selbst die Geschwister von Franz Ferdinand. Bei offiziellen Anlässen durfte Sophie nicht an der Seite ihres Mannes stehen, musste sich nach den verschiedenen Hofdamen und Würdenträgern der Monarchie einreihen. Sie führten eine glückliche Ehe – und so freute sich Sophie, dass sie wenigstens an der Seite ihres Mannes in Sarajewo auftreten durfte, an der Seite des Generalinspektors der Armee, eben nicht in Sachen der Krone. Ulf Schiewe wollte wahrscheinlich Sophie ein wenig Raum geben, sie würdigen, oder Franz Ferdinand als liebenden Ehemann darstellen, denn historisch gilt er als unsympathischer, knurriger Typ, befehlend und wenig charmant. Diese Zwiegespräche sind mir persönlich zu lang geraten und alles, was das Thronfolgerpaar betrifft.

Historisch - aber heute hochaktuell

Gesamt gesehen ist der Roman sehr lesenswert und gut gelungen. Letztendlich ist das Thema sogar aktuell: Junge Menschen mit Idealen werden aufgehetzt. Kleinstaaterei wird angestrebt, Nationalismus geschürt. Indoktrinierung von jungen Menschen, die später zu Attentätern ausgebildet werden. Die Strippenzieher selbst machen sich nicht die Hände schmutzig. Ein Ereignis, ein Attentat – und schon sind die Mächtigen echauffiert, drohen, stellen Ultimaten – die andere Seite reagiert ebenfalls mit falschem Stolz und schon wird der Krieg ausgerufen. Verbündete Staaten haben die Pflicht, sich zu beteiligen …


Ulf Schiewe wurde 1947 im Weserbergland geboren und wuchs in Münster auf. Er arbeitete lange als Software-Entwickler und Marketingmanager in führenden Positionen bei internationalen Unternehmen und lebte über zwanzig Jahre im Ausland, unter anderem in der französischen Schweiz, in Paris, Brasilien, Belgien und Schweden. Schon als Kind war Ulf Schiewe ein begeisterter Leser, zum Schreiben fand er mit Ende 50.


Ulf Schiewe 
DER ATTENTÄTER
Historischer Thriller
Bastei Lübbe, 2019, Taschenbuch, 509 Seiten


Interview mit Ulf Schiewe


Rezensionen zu weiteren Büchern von Ulf Schiewe:



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim