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Das verschwundene Meer von Carlos Franz - Seite

Rezension

von Sabine Ibing





Das verschwundene Meer 


von Carlos Franz


Die Wüste war so extrem wie die Jugend: Beide gestatteten keine Grauzonen und keine Zwischentöne. Vielleicht war die Wüste deshalb immer der Ort der nackten absoluten Wahrheiten gewesen. Der absoluten Wahrheiten, die zu absoluten Absurditäten führten.

Zwanzig Jahre, nachdem sie als Richterin abgesetzt wurde und aus ihrem Heimatland Chile nach Berlin floh, kehrt Laura Larco in die Kleinstadt Pampa Hundida zurück, eine in den Weiten der Atacama-Wüste verlorene Oase. Lauras Tochter hatte ihr unangenehme Fragen zu ihrer Stellung während der Pinochet-Diktatur gestellt und war ins Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, um ebenfalls Jura zu studieren. Gleichzeitig kehrt auch Major Cáceres dorthin zurück, der damals, nach dem Militärputsch gegen den Präsidenten Salvador Allende, als Kommandant eines Lagers für politische Gefangene am Stadtrand agierte. Er beschlagnahmte die wichtige Heiligenfigur der Stadt sozusagen als Geisel, und die Oberhäupter der Stadt baten Laura, in ihrer Stellung als Richterin, zu den Soldaten zu fahren, den Major zu überzeugen, die Heilige zurückzugeben und die standrechtlichen Erschießungen der Gefangenen zu beenden. Damals hatte der Major die hübsche Laura vergewaltigt und ihr hinterher einen Deal vorgeschlagen: Für jede Nacht, die sie mit ihm verbringt, würde er einen Gefangenen freilassen. Laura ließ sich auf diesen Deal ein, um Menschen zu retten, nur um später festzustellen, dass sie betrogen wurde. Ein Trauma, das sie bis heute nicht verarbeitet hat. 


Die inneren Widersprüche


Die Augenbinde der Justitia rutschte nieder, um mir den Mund zu verschließen. Die Norm war nicht lnger eine Sichtweise der Welt unter mehreren, sie war jetzt die einzig gültige. Der totalitäre Staat ist nicht derjenige, in dem es keine Gesetze gibt, sondern der, wo es nichts als Gesetze gibt und kein ‹warum›. Und ich war die Richterin in dieser neuen Welt.

Diktatorische Verhältnisse – von einem Tag auf den anderen verändert sich die Welt. Die Gegner von Pinochet werden exekutiert. Es wird leise im Land und die Mehrheit ist zwar nicht einverstanden, passt sich aber an, macht mit. Angst beherrscht das Land. Sprachgewaltig beschreibt Carlos Franz die Widersprüchlichkeit der Handelnden: Gewalt, Verrat, Schuld, Traumata, Täter, Opfer, Mitläufer und manch einer ist Täter und Opfer zugleich – wie Laura. Damals und heute. Kann Laura den Major heute vor Gericht verurteilen, wo sie doch selbst Schuld auf sich geladen hatte? «‹Wir sind aber nicht die Kinder unserer Wahrheiten, sondern unserer Widersprüche›, sagte Laura und hielt erschrocken inne.» Und kann sie ihrer Tochter die Wahrheit sagen – sie muss es aussprechen. Doch Papier ist geduldiger als ein Gespräch Auge in Auge … So beginnt Laura zu schreiben.


Was die Diktatur aus dir macht

Laura ist in die Heimat zurückgekehrt, hat den Posten der Richterin angenommen und sie erinnert sich. Im Rückblick wird Stück für Stück Lauras Geschichte in der Zeit nach dem Putsch in einem langen Brief,  erzählt, den Laura an ihre Tochter schreibt. Sie hat diesen Job angetreten, um Major Cáceres zur Rechenschaft zu ziehen. Während in der Stadt ein ausgelassener heidnischer Karneval tobt, treffen die beiden erneut aufeinander. Der Major ist ein Wrack, lebt in einem Wohnwagen an der Salpetermine, in der damals die Gefangenen gehalten wurden, bevor man sie exekutierte. Literarisch ein wundervolles Werk, ein wenig mit Mystik verwoben – doch manchmal zu sehr ausgewalzt. Exemplarisch werden hier empathisch die Mechanismen einer Diktatur aufgezeigt. Empfehlung!


Carlos Franz, geboren 1959, Sohn eines chilenischen Diplomaten in Genf, studierte Jura und Soziologie in Chile. Er arbeitete als Literaturkritiker für wichtige Zeitungen in Chile, Argentinien, Uruguay, Mexiko sowie als Professor für Literatur in Washington und Santiago de Chile.




Carlos Franz
Das verschwundene Meer
Aus dem chilenischen Spanisch von Lutz Kliche
Zeitgenössische Literatur, Diktatur, Pinochet, Chilenische Literatur, Lateinamerikanische Literatur
Hardcover, 488 Seiten 
Mitteldeutscher Verlag, 2023



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

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