Direkt zum Hauptbereich

Das Sägewerk von Anonym - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Das Sägewerk 


von Anonym


Ich schreibe, weil ich glaube, dass ich etwas zu sagen habe. Über mein Leben zwischen dem achtzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr, zwischen meinem nicht bestandenen Abitur und dem Militärdienst.


Prosa, die unter die Haut geht! Ja, dieser Autor hat etwas zu sagen! Durch die Prüfung gefallen begibt sich der schmale Junge auf Arbeitssuche, wird überall abgewiesen. Am Ende bekommt er einen Job in einem Sägewerk. Und dieses Werk wird nicht seine letzte Station in der Holzverarbeitung sein. Es ist dunkel, wenn er morgens aufsteht, genauso dunkel, wenn er am Abend auf dem Fahrrad zurückkehrt. Im Werk ist es eiskalt, auch wenn der Ofen brennt – der Chef erlaubt nur billiges, feuchtes Pappelholz zu verbrennen, und das taugt nichts als Brennholz. Finger und Füße bekommen Frostbeulen. Zwölf-Stunden-Tage – im Winter bitterkalt, im Sommer ist es vor Hitze kaum auszuhalten. Die Arbeit ist beinhart am Anfang, der Junge ist kurz vor dem Zusammenbrechen, doch er beißt sich durch, trotz Verletzungen. Hier wird bis ans Limit geschuftet, ohne Rücksicht auf den Körper, auf die Gefahr, in die Säge zu geraten, sich Finger Hände, den Arm abzusägen, fliegende Holzteile oder Bretter ins Gesicht zu bekommen, wenn die Maschine nicht ordentlich eingeteilt ist.


Körper und Geist verändern sich

An manchen Abenden bin ich so fertig, dass ich mich ernsthaft frage, wie ich aufs Fahrrad kommen soll. Dabei ist der Abend noch nichts im Vergleich zum Morgen … dass man sich fragt, wie man aus dem Bett kommen soll, mit steifen Gelenken, zum Umfallen müde, mit weichen Beinen und einem Körper, in dem jeder Muskel schmerzt und das ganze Fleisch nach Gnade schreit.

 

Ländlichen Kleinindustrie, das Ausnutzen von Arbeitern, für den Arbeitsschutz ist jeder selbst verantwortlich, in dem er aufpasst. In schneidender Prosa berichtet der junge Mann von seiner Arbeit in der Sägemühle, beobachtet seinen Körper seinen Geist im Kontakt mit Dingen und Materialien, wie sich mit der Zeit seine Einstellung, sein Körper verändert. Jeder folgende Job ist schlimmer als der davor. Der Leser taucht ein in Geräusche und Gerüche, zittert mit dem Jungen, leidet mit ihm seine Qualen. Der letzte Teil hat mich nochmal besonders beeindruckt. Hier bauen drei Männer allein in der Wildnis in Kälte und Schlamm eine Sägemühle auf – beeindruckend!


Unmenschliche Arbeitsbedingungen

…Viele hätten an deiner Stelle schon aufgegeben.›

Seine Worte tun mir gut. ‹Außer Dienst› ist Garnier sehr nett. Aber wenn er vor einem Stück Holz steht, dann hat er sich nicht mehr unter Kontrolle, dann kennt er weder Vater noch Mutter.

 

Die Sprache ist brachial, wie der Job. Der Junge wird zum Mann, wie er am Ende resümiert. Er verändert sich, nicht nur körperlich – erst beobachtend dann austeilend nimmt er das an, was ihn am Anfang abstieß. Im Betrieb gibt es eine Hackordnung unter den Arbeitern und eine gewisse Schadenfreude, wenn bestimmten Leuten ein Unglück passiert. Der Chef ist ein hinterlistiger Säufer, der seine Leute antreibt, brutal, ohne auf deren Gesundheit zu achten und ohne die geringsten Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Der Einzige, der sich traut, den Mund aufzumachen, ist der Junge – der den Chef fordert, irgendwann zum Sprecher der Gruppe wird. Letztendlich ist er dabei recht eigennützig, handelt hinter dem Rücken der anderen seine Lohnerhöhung aus. Seine Sprache passt sich Stück für Stück dem rauen Ton an, auch er wird Teil der Maschinerie der Intrigen. 


Ein Buch, das unter die Haut geht

Bei niedrigen Temperaturen frieren die Stellhebel der Spannböcke an den Händen fest. Das Holz vereist. Morgens müssen wir in der Sägehalle, durch die der Wind pfeift, und im Schein der Lampen, die kaum leuchten, die Maschinen mit verharztem Öl schmiere. Das Feuer der petroleumgetränkten Holzlatten verbreitet einen widerwärtigen Gestank von verbranntem Öl und Harz. Es raucht sehr stark. Ich werde mich mein ganzes Leben an diese Arbeitsmorgen erinnern …


Ungehobelte Prosa. Ungehobeltes Benehmen, Druck lastet auf allen Menschen. Der Druck auf dem Unternehmer, Gewinn zu machen, der Druck auf den Arbeitern, sich durchzuquälen, um den Job nicht zu verlieren. Eine harte Arbeit, auf die man stolz sein kann – eine unmenschliche Arbeit, bei der die Arbeiter bis über ihre Grenzen gehen müssen. Fein beobachtet auf Papier gebracht. Den Leser schüttelt es, er kann sich kaum vorstellen, wie man solch einen Job aushalten kann. Dieser kleine, feine Roman ist eine Hommage an den einfachen Arbeiter, dessen Leistung viel zu wenig geschätzt wird. Ohne diese Produktionen wären wir aufgeschmissen. Der Mensch ist leidensfähig bis an seine Grenzen und sein Körper ist zu immensen Kraftanstrengungen möglich, wenn er darauf trainiert wird. Es ist immer wieder erstaunlich, zu sehen, wenn man Bücher über den Anfang, bis Mitte des 20. Jahrhundert liest, welch rasanten technischen und menschlichen Fortschritt wir hinter uns gelegt haben. Mit dem technischen Fortschritt kamen Arbeitsschutz, Arbeitnehmerrechte – und liest man diesen Text, kribbelt es einem den Rücken hinunter, unvorstellbar diese Arbeitsbedingungen, diese Kraftanstrengungen. Solche Menschen brauchten weder ein Fitnesszentrum, noch sonstige Freizeitbeschäftigung, ihr Leben bestand aus arbeiten und schlafen, essen. Das Rentenalter haben sie selten erreicht.


Der Autor vielleicht doch bekannt

Über den Autor ist offiziell nichts bekannt. Der Text wurde wohl bereits 1953 geschrieben, aber erst 1975 durch den französischen Schriftsteller Pierre Gripari bei L’Âge d’Homme veröffentlicht, ohne Wissen und Einverständnis des Autors – daher Anonym. Allerdings verplapperte sich 1984 der nun berühmte Autor Gripari in einem Nebensatz, vielleicht auch mit Absicht: Sein Bruder habe diese Zeilen geschrieben. Soweit man die Biografien zurückverfolgen kann, stimmt die Geschichte. Die Brüder waren Waisen und Pierre lebte zu dieser Zeit im Elternhaus, betreut durch das Hausmädchen Yvonne. Die Personen Pressurot, der in Gauthiers Sägemühle arbeitete, einen schweren Unfall hatte, ist belegbar; ebenso der Brand in Gauthiers Mühle; die Mühle der Brüder Garnier gab es – die autobiografischen Daten scheinen stimmig. Der vermeidliche Autor selbst wurde Pilot und verstarb 2015.

Der Schweizer Verlag Héros-Limite gab im Jahr 2013 eine Neuausgabe heraus, die mit dem Prix Mémorable ausgezeichnet wurde. Und hier die deutsche Übersetzung!


Anonym 
Das Sägewerk
Originaltitel: La Scierie (L’Âge d’Homme)
Aus dem Französischen von Konstantin Meisel
Roman, französische Literatur, historischer Roman
Taschenbuch, 160 Seiten
Wagenbach Verlag


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane


Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck