Direkt zum Hauptbereich

Das Mädchen, das den Sturm ruft von Lindsay Lackey - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Das Mädchen, das den Sturm ruft 


von Lindsay Lackey


Den Wind hatte sie von ihrer Mutter. Einige Mütter geben ihre Sommersprossen oder ihr Lachen oder ihre Plattfüße weiter. Bei Reds Mutter waren es Luftströmungen und Chaos. Wolken, die sich zwischen Himmel und Erde in sich verdrehten wie ein ausgewrungener, nasser Lappen.

Red, so möchte Ruby genannt werden, drückt ihre Gefühle durch das Wetter aus – Sturm ist geballte Wut, Verzweiflung. Ist sie wütend, zieht ein Orkan auf. Schwarze Wolken verhängen den Himmel. Sie sitzt zu Beginn beim Jugendamt. Schon wieder wird sie zurückgegeben, wie ein Kleid, das nicht passt oder dessen Farbe nicht kompatibel war. Die Pflegefamilie kam mit ihr nicht klar, mit den drei Jungs gab es nur Streit. Red ist bei ihrer Oma aufgewachsen, die verstorben ist, die Mutter hat Drogenprobleme. Nun geht es weiter zur nächsten Familie, bis ihre Mutter aus dem Gefängnis entlassen wird, nur noch etwas über dreihundert Tage. Die Sozialarbeiterin fährt sie zu Celine und Jackson, die auf ihrer Farm einen Streichelzoo betreiben. Jackson ist Tierarzt. Zunächst ist Red abweisend. Niemand ist ihre Familie – nur ihre Mutter. Eine Ziege, die auf Bäume klettern kann, eine bücherliebende Riesenschildkröte und einige Hunde, Hühner, Pferde, was soll sie hier? Allmählich fasst sie ein wenig Fuß, der Sturm hat sich in Sonnenwetter gewandelt, mit der Schildkröte kann sie sich gleich anfreunden – ein einsames, verletztes Wesen. Doch dann gibt es Enttäuschen mit ihrer Mutter – nicht nur eine. Ein Orkan zieht auf. Wird Red den Sturm in Griff bekommen, mit der Pflegefamilie klarkommen? Wird sich ihre Mutter stabilisieren, Red zu sich nehmen?

Wut im Bauch, herumgeschoben zu sein, Einsamkeit




Manchmal lache ich, wenn ich traurig bin, und weine, wenn ich froh bin. Manchmal sind Fremde wie eine Familie. Und manchmal kommt mir meine Familie fremd vor.

Zunächst hatte ich bei dieser Geschichte an Fantasie gedacht – doch letztendlich hat Lindsay Lackey die Wut eines Kindes, das nirgendwo hingehört, keinen festen Boden findet, in die Metapher vom Wind und Sturm gepackt. Es ist sehr empathisch, das in einem Jugendbuch so zu umzusetzen. Man fühlt mit jeder Zeile die ohnmächtige Wut, ohne sie direkt anzusprechen. Ein leichter Hauch bringt Gardinen zum Flattern, ein Wind lässt die Blätter in den Bäumen rascheln, dunkle Wolken ziehen auf, Red kann sich nicht mehr beherrschen, zu viele Gedanken purzeln durch den Kopf: Enttäuschung, Liebesverlust – die Atemübungen nützen nichts, sie kann es nicht in sich halten. Der Sturm muss heraus aus dem Kopf und schon bricht über das Land ein Orkan herein. Die Wut ist lesbar, fühlbar, auch die Angst der anderen vor dem Sturm, die Ohnmacht auf allen Seiten, nichts dagegen ausrichten zu können. Würde man ein wütendes Kind beschreiben, das zappelt, schreit, beleidigt, schlägt, tritt, den Kopf gegen die Wand rammt, es hätte nur ansatzweise die Wirkung wie die Metapher des Windes.


Das Buch wird angereichert mit Briefen von Red an ihre Mutter und Einträge an eine Art Tagebuch. Jedes Kapitel beginnt mit einer kleinen Grafik von Annabelle von Sperber.

Die Nacht war lebendig, summte mit dem tiefsten Surren der Streicher und dem hohen Trällern des Soprans. Es klang wie eine von Granmas Sinfonien, aber gewaltiger und noch viel gefühlvoller als Beethoven. ine Sternschnuppe fiel Richtung Horizont und ihr Lied verklang bei ihrem Sturz.

Was ist eigentlich eine Familie?

Diese Geschichte befasst sich mit dem Hintergrund Pflegekinder und Pflegefamilie. Ein sensibles Thema, das hier zartfühlend angegangen wird. Auf der einen Seite steht ein einsames Kind – ganz allein in der Welt, voller Enttäuschung, Unverständnis, Wut im Bauch. Es wird in eine fremde Familie gestopft, ohne gefragt zu werden. So, das ist nun deine Familie – was ist überhaupt Familie? Lindsay Lackey beschreibt die Gefühle von Red, die resümiert, warum es in den anderen Familien nicht klappen konnte. Auf der anderen Seite steht die Pflegefamilie, die dem Kind Zeit und Raum geben muss, sich anzunähern, Vertrauen zu gewinnen. Eine schwierige Zeit für beide Seiten, insbesondere, da oft aus der Ursprungsfamilie auf das Kind weiter eingewirkt wird. Lindsay Lackey nimmt das Thema aber nicht nur empathisch auf, sie zeigt Erzählkraft, Gefühle, Situationen und Menschen einzufangen in Worte. An manchen Stellen kann der Leser hineinfallen in poetische Absätze, bevor wieder ein Wind aufzieht. Die Altersempfehlung des Dressler Verlags, ab 10 Jahren, ist für mich zu tief angelegt. Die ansruchsvolle Art des Schreibens und die gut umgesetzte Thematik würde ich eher bei ab 12 Jahren ansetzen. Meine Empfehlung!


Lindsay Lackey ist ausgebildete Opernsängerin, hat in der Kinder- und Jugendbuchabteilung einer Bibliothek und im Marketing eines großen Verlags gearbeitet. Mit Mann und Hund lebt sie in der Nähe von San Francisco. Dieser Roman ist ihr Debüt.
Annabelle von Sperber arbeitet als freie Illustratorin und Autorin im atelier2gestalten für verschiedene Verlage und Printmedien. Sie studierte Illustration an der HAW Hamburg und lehrt als Dozentin an der
Akademie für Illustration in Berlin und an der Akademie Faber Castell in Nürnberg.


Lindsay Lackey 
Das Mädchen, das den Sturm ruft
Original: All the Impossible Things
Annabelle von Sperber (Illustratorin)
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Klein
Verlag: Dressler Verlag, 2020, 384 Seiten
Altersempfehlung: ab 10 Jahren

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees

  Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Bewegung, Physiotherapie und Sport statt herumsitzen! Ein interessantes Sachbuch, logisch in der Erklärung, ein mittlerweile erfolgreiches, erprobtes Konzept. Weiter zur Rezension:    Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz...

Interview - Viola Eigenbrodt von Sabine Ibing

                                                                                                                                          © Viola Eigenbrodt Viola Eigenbrodt, freie Journalistin aus dem Kulturbereich, ihr Genre ist der Cosy-Krimi, Geschichten, die im Alpenraum angesiedelt sind, phantastische Geschichten und Entwicklungsromane. Und neuerdings ist Viola Eigenbrodt in die Kinder- und Jugendliteratur eingestiegen. Hier das Interview mit ihr:     Interview...

Rezension - Le Sud: Geschichten und Rezepte aus Südfrankreich - Provence - Alpes - Cote d’Azur von Rebekah Peppler und Joann Pai

  Das Savoir-vivre Südfrankreichs in 80 köstlichen Rezepten und stimmungsvoller Fotografie: Von erfrischenden Cocktails und kleinen Snacks über Vorspeisen, Hauptgerichte und Beilagen, bis hin zu Käse und Desserts, alles, was Südfrankreichs Küche zu bieten hat. Die Provence-Alpes-Côte d’Azur und ihre vielfältigen Koch- und Esstraditionen mit saisonalen Zutaten ausgerichtet. Frankreichs Sommerküche aus dem Süden gekonnt präsentiert. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Le Sud-Geschichten und Rezepte aus Südfrankreich von Rebekah Peppler und Joann Pai 

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - Glutspur von Katrine Engberg

  Liv Jensen, ehemalige Polizistin, hat sich als Privatdetektivin in Kopenhagen selbstständig gemacht. Sie bekommt seitens der Polizei den Auftrag, Gemeinsamkeiten zwischen drei Todesfällen zu finden. Der Suizid eines Häftlings auf Freigang, der Tod einer Museumsangestellten und ein dreieinhalb Jahre zurückliegender Mord an einem Journalisten – diese Fälle können doch keine Gemeinsamkeit haben. Oder doch? Unterstützung erhält Liv dabei von Hannah Leon, einer Krisenpsychologin, die gerade selbst einen Schicksalsschlag erlitten hat, und Nima Ansari, einem iranischen Automechaniker, der selbst unter Mordverdacht gerät. Gemeinsam stoßen sie auf eine dunkle Vergangenheit, die jemand unbedingt geheim halten will. Mit allen Mitteln … Solider Krimi für ausdauernde Leser. Weiter zur Rezension:    Glutspur von Katrine Engberg 

Rezension - Skin City von Johannes Groschupf

  Gesprochen von Florian Schmidtke Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 6 Std. und 37 Min. Der Dienst im Außenbezirk sollte Ruhe in das Leben der Kriminalpolizistin Romina Winter bringen. Doch georgische Einbrecher sind täglich in den Stadtvillen in Dahlem und Lichterfelde unterwegs, und die Bewohner sind in der Folge verängstigt. Die Polizei muss wachsamer sein! Und dann verschwindet auch noch Rominas kleine Schwester. Jacques Lippold nimmt den Berliner Geldadel ganz legal aus, denn er arbeitet als Kunstberater. Berliner Szenen aus verschiedenen Sichtweisen, die sich irgendwann kreuzen werden. Gut aufgebaute Charaktere und atmosphärisches Berlin-Milieu-Feeling heben den Krimi ab, der gut geschrieben eine Empfehlung ist! Weiter zur Rezension:    Skin City von Johannes Groschupf