Rezension
von Sabine Ibing
Das Echo der Bäume
von Sara Nović
Der erste Satz: In Zagreb begann der Krieg wegen einer Schachtel Zigaretten.
Die zehnjährige Ana Jurić wird von ihrem Patenonkel gebeten Zigaretten am Kiosk zu holen, wie jedes Mal, wenn er zu Besuch in Zagreb ist. Es ist ein Spiel: Wenn sie schneller ist, als das letzte Mal, darf sie das Wechselgeld behalten. Die Zeit läuft, Ana rennt los. Doch an diesem Tag wird sie gefragt, ob sie kroatische oder serbische Zigaretten kaufen wolle. Was ist denn das für eine Frage? Na die, die sie immer kaufe, die mit der goldenen Hülle. Kroatische oder Serbische wird sie wieder gefragt. Sie geht ohne Zigaretten nach Hause. Es ist das erste Erlebnis nach der Frage der Ethnie für Ana, das ab diesem Tag ihr Leben verändern wird.
Und von einem Tag auf den anderen weiß man, wie grausam Krieg ist
Der Bürgerkrieg rückt immer näher auf Zagreb, die ersten Bomben fallen, immer wieder erschallt die Sirene, die Kinder müssen vom Klassenzimmer in den Luftschutzbunker wechseln. Anas bester Freund heißt Luka, den wird sie heiraten, wenn sie erwachsen ist, glaubt sie. Fußball und Fahrradfahren, etwas was beide verbindet, ein Leben in Kriegszeiten, Lebensmittel und Wasser sind rationiert, abends muss man die Fenster verdunkeln, man erfreut sich an Kleinigkeiten, die Kinder nehmen es, wie es ist. Die kleine Schwester von Ana ist krank, ein Kleinkind, im Krankenhaus kann man nicht weiterhelfen. Die Eltern fahren sie über die Grenze nach Ljubljana zu einer amerikanischen Ärztin der Medi-Mission, Dr. Carlson. Sie kann mit Medikamenten überbrücken, aber Rahela bräuchte eine Spezialbehandlung. Und irgendwann kommt der Tag, an dem es Rahela so schlecht geht, dass man entscheiden muss, sie sterben zu lassen oder das Risiko aufnimmt, nach Zagreb zu fahren. Alles geht gut. Dr. Carlson stellt aber die Bedingung, Rahela nach Amerika zu transportieren, sie würde in einer Pflegefamilie wohnen, die mit ihr die täglichen Arztbesuche durchführe, bis das Mädchen gesund sei. Das könne ein wenig dauern. Die Familie stimmt zu, ungern, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Auf dem Rückweg passiert die Katastrophe. Das Auto wird von bärtigen, betrunkenen Soldaten aufgehalten, sie müssen aussteigen, den Soldaten in den Wald folgen, die Hände mit Stacheldraht gefesselt. Ana überlebt durch einen Trick ihres Vaters.In Amerika hatte ich schnell gelernt, worüber man reden durfte und was man besser für sich behielt.
Man muss sich den Gespenstern stellen, die einen des Nachts heimsuchen
Schnitt- zehn Jahre später – die Studentin Ana redet vor den Vereinten Nationen als Überlebende des jugoslawischen Bürgerkriegs. Eine Wunde bricht auf, die Erinnerungen kommen mit Macht zurück, sie erinnert sich, wie es ihr in Amerika ergangen ist. Die Familie, bei der Rahela aufgenommen wurde, wird auch ihre neue Familie, sehr liebevolle neue Eltern, für die kleine Rahela kein Problem, sie ist zu klein, um sich an die Zeit in Europa zu erinnern. Ana muss sich an das neue Zuhause gewöhnen, sie schläft schlecht, denn Schlafen bedeutet träumen, bei einem Feuerwerk verkriecht sie sich unter die Treppe. Traumatisiert wird sie zwar mit Liebe aufgenommen, aber nie hat sie die Gelegenheit, über das Erlebte zu sprechen. Hier beschreibt Sara Nović sehr genau die amerikanische Gesellschaft, how nice, how wonderfull. Beschreibung von Gräuel ist ein großes Tabu. Soweit man überhaupt davon berichten darf, benennt man Erlebnisse nicht ernsthaft, sondern verpackt sie in einfache Vokabeln, bezeichnet sie als Belanglosigkeiten, die am Rande geschehen sind. Ihre Pflegemutter Laura berichtete anfänglich von »Schwierigkeiten«, die Ana hatte, von »Unruhen« und »unglückseligen Vorfällen«, wenn sie den Bürgerkrieg ansprach. Später wird darüber kein Wort mehr gesprochen. Die Pflegeeltern selbst müssen Tricks anwenden, um Ana zu legalisieren, denn sie war illegal eingereist. Hier wird die Geschichte humorvoll, wenn sich der Pflegevater mit italienischen Wurzeln an seine Cousins wendet, mit denen er eigentlich nichts zu tun haben will. Durch die Rede vor den Vereinten Nationen ist Ana klar, die Geschehnisse lodern in ihr, es muss heraus, sie muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Sie muss ihrem Freund die Wahrheit sagen, der glaubt, sie sei in den USA geboren, und sie muss nach Kroatien reisen, Orte aufsuchen, sich erinnern.›Im Verdrängen sind wir doch alle Weltmeister‹, sagte ich. Eigentlich sollte das witzig klingen, doch irgendwie kam es schief raus, und Luka lachte auch nicht. ›Komm, wir schauen uns das Wasser an‹, sagte ich. ›Es muss doch einen Grund haben, warum die Deutschen so gern auf diesem traurigen kleinen Schlachtfeld herumwandern.
Beim Lesen musste ich mehrfach Luft holen, Zagreb, Dubrovnik, Ljubljana, Plitvicer Seen, alles zauberhafte Orte, meiner Kindheit, jedes Jahr haben wir die Sommerferien in Jugoslawien verbracht. Mit Mitte zwanzig war ich noch einmal dort, habe Freunden die Plitvicer Seen gezeigt, wir haben in den Kalkbecken gebadet (heute ist alles abgesperrt), sind mit dem Boot durch Schluchten gefahren, dort wo die Karl May Filme gedreht wurden. - Vor dem Krieg. – Ein bewaffneter Zwischenfall 1991 bei den Plitvicer Seen (kroatisch „Krvavi Uskrs na Plitvicama“ oder „Plitvički krvavi Uskrs“; übersetzt: „Blutige Ostern an den Plitvicer Seen“), ethnische Spannungen zwischen Krajina-Serben und Kroaten, lösten letztlich den Krieg zwischen Kroaten und Serben aus. Heute sind die Seen wieder ein Touristenparadies.
So etwas wie Kindersoldaten gab es in Kroatien nicht. … Man suchte sich nicht aus zu kämpfen. Wir taten es, um zu leben.
Ana darf nicht über ihre Erlebnisse reden, verpackt sie nach innen
Sara Nović schafft es, mit viel Atmosphäre den Krieg aus der Sicht eines Kindes darzustellen. Unbedarftheit am Anfang und die volle Wucht, gleich einer Ohrfeige an den Leser: Das Ende der Kindheit endet vor dem Erschießungskommando. Es scheint fast, als wolle die Autorin den Leser beruhigen mit dem Schnitt zur erwachsenen Ana. Alles ist gut, die Geschwister kommen zusammen. Nach einem Drittel dachte ich, nett, wie es jetzt weitergeht, die amerikanische Gesellschaft im Spiegel, aber das bis zum Ende? Vor jedem Sturm gibt es eine Phase der Stille, so auch hier. Sara Nović erzählt ihre Geschichte nicht linear. Und das ist gut so, die dicken Brocken liegen am Ende. Denn was geschah weiter, nachdem Ana dem Tod von der Schippe gesprungen war? Sie ist ja nicht auf der Wiese ins Flugzeug gestiegen. Jedes Leben erzählt eine Geschichte. Und diese hier geht tief ins Herz. Hier gibt es keinen verklärten Kitsch, unglückselige Vorfälle, die mal passierten, die Autorin beschreibt unprätentiös Kriegsgeschehen, und was die Erlebnisse in einem Menschen verändern. Ana erlebt grauenvolle Dinge und obendrauf verliert sie ihre Heimat, darf nicht trauern, nicht darüber sprechen, was diese Kinderaugen sahen, was geschehen ist. Der Originaltitel des Romans lautet »Girl at War«. Ein passender Titel. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der deutschen Titelschöpfer vorgeht, wenn sie alles neuerfinden müssen und dabei meist danebengreifen. Mädchen im Krieg, ein griffiger Titel, »Das Echo der Bäume«, weder Cover noch Titel hätten mich animiert zuzugreifen, des war der Klappentext, der mich neugierig machte.Der Roman hinterlässt Spuren im Leser
Die erwachsene Ana ist sich nicht ganz sicher, wo sie zu Hause ist, USA oder Kroatien. Heimat hier oder dort? Heimat, ein verklärter Begriff, eigentlich das Gefühl, mit etwas verbunden zu sein, Erinnerungen, Bilder, Gerüche, Geschmack, Geräusche … und warum soll der Mensch nicht mehr als eine Heimat haben dürfen? Der Roman hinterlässt Spuren im Leser. Schade, dass diesem Buch in Deutschland so wenig Aufmerksamkeit gegeben wurde, vielleicht lag es an der Aufmachung.Sara Nović schreibt neben Belletristik Essays und Sachbücher, arbeitet als Redakteurin beim Blunderbuss Magazin, unterrichtet in Columbia. Dieser Roman ist ein Debüt. Viel mehr findet man nicht über die Kroatin, die in den USA lebt. Gräbt man auf englischen Seiten, erfährt man nur wenig mehr: Der Roman wurde 2016 mit dem Alex Awards ausgezeichnet. Im Jahr 2014 erhielt Nović von der American Literary Translators Association den ALTA Travel Fellowship. Und sie ist Gründerin der Website Redeafined, denn die Autorin ist taub. Inwiefern hier persönliche Erlebnisse Einfluss auf die Geschichte nehmen, ist unklar. Eins ist gewiss, sie pendelt wie ihre Protagonistin zwischen Kroatien und den USA, sagte, wenn sie zu Hause anrufen soll, weiß sie nicht, welche Landesvorwahl sie wählen solle.
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