Rezension
von Sabine Ibing
Das Buch des Totengräbers
von Oliver Pötzsch
Der Anfang:
Der Mann im Sarg öffnete die Augen und hörte seiner eigenen Beerdigung zu.
Dumpfe Wortfetzen drangen bis hinunter in sein Grab, durchsetzt vom Klagen und Weinen einer Frau. Er glaubte zu wissen, wer dort weinte, und sein Herz füllte sich mit Sehnsucht.
1893: Inspektor Leopold von Herzfeldt wird von Graz nach Wien versetzt. In Graz hatte man sich bereits mit der modernen Kriminaltechnologie aus Paris beschäftigt, in Wien ist man noch lange nicht so weit. Und so setzt er sich am ersten Tag gleich in die Nesseln, als er ungebeten am Tatort erscheint, etwas von Spurensicherung erzählt und seinen Fotoapparat aufbaut, um die Szenerie auf Bildern festzuhalten. Dazu spricht der Piefke (Deutscher) auch noch Hochdeutsch, hat einen jüdisch klingenden Namen. Im antisemitischen Wien nicht förderlich. Bei den Kollegen hat er gleich alle Sympathiepunkte verspielt. Eine Frau wurde ermordet: Der Hals durchgeschnitten, und ein Holzpflock steckt in ihrer Vagina. Von Herzfeldt wird vom Fall abgezogen, bekommt einen neuen zugewiesen, einen Suizid, den er abschließen soll.
Der Piefke macht sich keine Freunde
Spuren … gesichert …?› Der Wachmann sah ihn verständnislos an. Leopold wies auf die vor Dreck starrenden Schuhe des Beamten.
‹Nun, ich sehe, Sie laufen hier mit Ihren Kommissstiefeln durch den Matsch. Selbst im schwachen Licht Ihrer Laterne kann ich Spuren auf dem Erdboden erkennen. Der Tiefe nach könnten sie zu einem, nun ja, stämmigen Mann passen, jemandem wie Sie. Sie hinken leicht, auch das zeigen die Spuren. Das lang gezogene Schleifen ist deutlich zu erkennen, sehen Sie? Ich frage also, ob mögliche andere Spuren bereits gesichert wurden oder ob Sie hier einfach durchtrampeln wie ein Wildschwein durch den Kartoffelacker?
Dazu muss von Herzfeldt mit Augustin Rothmayer, dem Totengräber auf dem Wiener Zentralfriedhof Kontakt aufnehmen. Ein skurriler Mensch, doch hochgebildet, der den ersten Almanach für Totengräber schreibt. Und der zeigt dem jungen Inspektor, dass der Spross der Straußfamilie wohl lebendig begraben wurde; und ob es ein Suizid war, scheint auch in Frage gestellt. Der Fall könnte interessant werden. Doch die Straußfamilie ist unantastbar in Wien. Ein neues Fettnäpfchen, in das von Herzfeldt tritt. Ein weiteres Dienstmädchen wird ermordet – gleiches Prozedere. Hier scheint ein Serienmörder unterwegs zu sein. Von Herzfeldt ist wieder im Team – wegen der Kamera. Doch sein Vorgesetzter stellt ihn aufs Abstellgleis und irgendjemand torpediert seine Untersuchungen.
Gut recherchiert und spannend
Der Krimi beginnt mit einem Auszug aus dem fiktiven «Almanach für Totengräber», erklärt den Scheintod. Auch im weiteren Verlauf beschreibt der Almanach von Augustin Rothmayer am Kapitelanfang etwas über den Tod und Verwesungsprozesse. Der wendungsreiche Krimi ist spannend und führt uns in die Szenerie der Jahrhundertwende. Aufbruchstimmung. Die ersten Autos fahren durch Wien, die Fotoapparate machen einen technischen Fortschritt, überhaupt erlebt die Technik einen Aufschwung. Die Musik erfasst neue Ströme, die ersten Fahrräder lösen das Hochrad ab. Wer in Wien lebt, ist selten aus Wien, es gibt eine Menge ausländischer Strömungen; aber gern gesehen sind die alle nicht, besonders die Piefkes. Es herrscht viel Armut, viele Menschen leben von der Hand in den Mund. Eine atmosphärische Mischung aus historischer Stimmung und einem intelligenten Krimiplot, bei dem die Charaktere überzeugen.
Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitete nach dem Studium zunächst als Journalist und Filmautor beim Bayerischen Rundfunk. Heute lebt er als Autor mit seiner Familie in München. Seine historischen Romane haben ihn weit über die Grenzen Deutschlands bekannt gemacht: Die Bände der Henkerstochter-Serie sind internationale Bestseller und wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Das Buch des Totengräbers
Krimi, historischer Krimi, Kriminalroman
Klappenbroschur, 448 Seiten
Ullstein Verlag, 2021
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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