Direkt zum Hauptbereich

Damaskus von Iben Albinus - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Damaskus 


von Iben Albinus 


Der Anfang: 

Ein Spatz hüpfte durch die Gitterstäbe. Da wusste Sigrid, dass sie auf dem Weg zu ihr waren.

Die Krümel des Fladenbrotes lockten die Vögel an, die hereinflogen, wenn die Gefängniswärter die Stahltüren zum Frauentrakt öffneten.


Im Frühling 2011 kündigt die Menschenrechtsaktivistin Sigrid Melin bei Amnesty International und nimmt einen Job in der Telekommunikationsfirma NorCom an, um die «soziale Nachhaltigkeitsstrategie» des Projekts bei der Aufstellung der Strommasten in Syrien zu überwachen, zu beraten. Sie wird vom dänischen Nachrichtendienst angesprochen, einen Mitarbeiter aus Regierungskreisen vor Ort als Agent zu rekrutieren. In Damaskus trifft sie auf Reem, eine syrische Frau, die früher einmal ihre beste Freundin und Studienkollegin war. Ein tragisches Ereignis steht zwischen ihnen; eine Jugendsünde. Die regierungsnahe Reem führt ein Securityunternehmen, und sie ist nun für die Sicherheit der Mitarbeiter der dänischen Firma zuständig. Es ist die Zeit des arabischen Frühlings, und auch in Syrien gehen die Studenten auf die Straße, fordern den Rücktritt von Diktator Baschar al-Assad. Reem war früher Freiheitsaktivistin, heute scheint ihre Loyalität der Regierung zu gehören; sie ist mit dem Innenminister eng befreundet, ihr Mann ist Arzt in einem Krankenhaus.



«It’s a human right to be online»


‹Man hat mich gebeten, mich für den Posten der stellvertretenden Geschäftsführerin in der Abteilung Soziale Verantwortung zu bewerben›, sagte sie. ‹NorCom will dem syrischen Volk Zugang zum Internet ermöglichen und sich in den Geschichten vom arabischen Frühling sonnen›, fügte sie ein bisschen zu schnell hinzu. ‹Obwohl Syrien davon nicht wirklich berührt ist. Aber sie werden es bestimmt nicht tun, ohne dass die Welt von ihren guten Taten erfährt.›


Als Beraterin von NorCom fährt Sigrid mit zu den Baustellen. Es wird immer schwieriger, sicher durch die Stadt zu fahren, überall wird geschossen. Weite Umwege müssen in Kauf genommen werden; der Geheimdienst sperrt immer wieder ganze Stadtteile. Besonders am Freitag wird es kritisch, da die Demonstranten sich nach dem Freitagsgebet vor den Moscheen sammeln können, ohne gleich aufzufallen. Die dänische Firma hat ein Ziel: «It’s a human right to be online» – jeder Mensch soll Zugang zum Internat haben. Und genau das hat für die syrische Regierung einen Haken. Aufrufe und Verabredungen, Fotos und Videos über das brutale Vorgehen von Polizei und Geheimdienst kommen ins Netz – die man versucht zu löschen. Die Urheber und Weiterverteiler werden verhaftet. Und als die Regierung den Befehl erteilt, lokale Sendemasten für bestimmte Zeit abschalten, um die Ausbreitung von Handyvideos zu unterbinden, fällt Sigrid eine gefährliche Entscheidung, die sie in Lebensgefahr bringt. Sie landet selbst im Folter-Gefängnis Al-Khatib (womit der Roman beginnt).


Was hier geschieht, ist beinharte Reality


Sigrid hat einen Pakt mit sich geschlossen: Wenn sie den Auftrag für den Nachrichtendienst erfolgreich erledigte, wäre sie endlich frei. Frei von Schuld. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz heiß, und ihr Blut pochte hinter den Schläfen. Das Schamgefühl begleitete sie schon seit so vielen Jahren, dass sie gar nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte, ohne es zu sein.


Anhand dieser rasanten Story wird der Beginn der Unruhen 2011 in Syrien geschildert, die letztendlich den Bürgerkrieg auslösten. Ein Pageturner, ein spannender Spionageroman! Jeder spielt hier sein eigenes Spiel zu eigenen Interessen und manch einer weiß nicht, in welche Richtung er gehen soll. Der ein oder andere springt über seinen Schatten und einige lügen, betrügen, treiben ein böses Spiel. Wem kann man trauen? Wie weit wird jemand für seine Überzeugung gehen und wer ist schlussendlich ein feiges Schweinchen? Welches Spiel treibt NorCom mittendrin? Spannung pur, ein brutaler Diktator, zwischendurch entspannend kleine unbeschwerte Passagen, die die Schönheit Syriens und das arabische Essen stimmungsvoll einfangen. Eine feine Figurenzeichnung und ein komplexer, glaubwürdiger Plot zeichnen das Buch aus. Sigrid, die Hauptprotagonistin ist getrieben von ihrem Gerechtigkeitssinn und einer Schuld aus jungen Jahren, die sie wieder gut machen will. Für diese beiden Ziele ist sie bereit, alles zu opfern. Interessante Neben- und Randfiguren bereichern die Geschichte. Multiperspektiv mit mehreren Handlungssträngen blättert der Politthriller systematisch das Vorgehen von Baschar al-Assad und seinem «Mukhabarat» auf. Geschichtlich interessant, lässt es dem Leser das Blut in den Adern gefrieren. Der Noir-Thriller beschreibt die Brutalität, mit der Mukhabarat während der Massenproteste ab 2011 versuchte, Informationen aus Regimekritiker:innen herauszufoltern. Es zeigt aber auch die Naivität der Regierung und wie schlecht das Regime auf eine Bewegung vorbereitet war, die nicht nur durch öffentliche Proteste, sondern sich ebenso digital formatierte. Mobiltelefon – die Freiheit, an Information zu gelangen, sich mitzuteilen auf der einen Seite – aber auch das Instrument, um dich aufzuspüren. Letzteres hat der Mukhabarat erst nach 2011 gelernt; gleichwohl lernten sie schnell – glücklicherweise nicht so schnell, wie es hier geschildert wird (siehe diverse Berichte von syrischen Bloggern). Das ist egal; denn für den spannenden Plot und die Message war es wichtig. Fluch und Segen liegen oft beieinander. Hochspannung, Noir, bis zur letzten Seite – Taschentuch bereitlegen, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen oder sich ein Tränchen abzutupfen. Was hier geschieht, ist beinharte Reality – genau das geht ans Herz – macht wütend. Absolut zu empfehlen!


Iben Albinus wurde 1972 in Dänemark geboren und war als als Journalistin und Kulturkritikerin tätig. Heute arbeitet sie als Drehbuchautorin, schreibt erfolgreich Fernsehserien und lehrt als Dozentin für Drehbuchgestaltung an der Syddansk Universitet. Damaskus ist ihr erster Roman.



Iben Albinus
Damaskus
Übersetzt aus dem Dänischen von Kerstin Schöps
Thriller, Politthriller, Noir-Thriller, Noir, Syrien, Damaskus, Spionagethriller, Dänische Literatur, Mukhabarat, Al-Khatib, Baschar al-Assad, Arabischer Frühling
Hardcover mit Schutzumschlag, 512 Seiten
Hoffmann und Campe, 2022






Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo