Direkt zum Hauptbereich

Cordie von Felicity McLean - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Cordie 


von Felicity McLean


Tikka Molloy arbeitet als Laborassistentin in Baltimore, Australien. Auf dem Heimweg im strömenden Regen entdeckt sie sie: Cordie! Sie folgt ihr durch den dichten Verkehr, Treppen rauf und runter, durch Straßen und endlich am Bahnsteig hat sie sie eingeholt. Aber es ist nicht Cordie! Immer wieder sieht sie ihre damals beste Freundin. Es ist fast eine Manie, sie aufzuspüren – sie wird sie nie aus dem Kopf bekommen. 


Die verschwundenen Mädchen


In jenem Sommer verloren wir alle drei Mädchen. Wir ließen sie entgleiten wie die Worte eines halb erinnerten Liedes, und als eine zurückkehrte, war es zunächst einmal nicht die, an die wir uns zu erinnern versuchten.


Als Tikka erfährt, dass ihre Schwester krebskrank ist, eine Chemo bekommen soll, reist sie nach Hause, ins Buschland hinter Sydney. Zwanzig Jahre später kehrt sie aus einem unerfüllten Leben in Baltimore in ihre Heimatstadt zurück. Ihre Erinnerungen an damals tauchen auf: Tikka Molloy war in diesem heißen Sommer von 1992 elf Jahre alt, als die Van Apfel-Schwestern verschwanden. Hannah (14 Jahre), die beste Freundin ihrer Schwester, Cordelia (13), ihre beste Freundin und die kleine Ruth (7), die auf mysteriöse Weise während eines Showstopper-Konzerts der Schule im Amphitheater am Fluss abhandenkamen. Sind sie weggelaufen? Wurden sie entführt? Wochenlang suchten die Gemeindemitglieder nach den Mädchen. Ruth wurde gefunden – tot geborgen in einer Felsspalte. Von den beiden anderen fehlt jede Spur. Als Ruths Leiche gefunden wird, gibt dies ihrem Verschwinden nur noch mehr Rätsel auf. Haben Hannah und Cordie ihre Schwester zurückgelassen, ist sie ihnen nachgelaufen, hat sie sie nicht erreicht, oder sind sie alle drei irgendwo der in der Wüste verreckt? Oder gibt es weitere Erklärungen?

Cordie ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte


Über die Jahre hatte ich so viele Cordies gesehen, dass es zu einem nervösen Spleen geworden war. Ich sah ihren Kopf von hinten. Erblickte sie in der Menge. Sah sie an der Kasse im Supermarkt, an der Tankstelle und beim Zahnarzt. Sie tauchte im Schwimmbad in der Bahn neben mir auf, ihre Schwimmzüge ineffizient, aber wunderschön anzusehen.


Tikka erinnert sich: In abwechselnden Kapiteln führt uns Felicity McLean durch den Sommer 1992, wie Tikka und ihre Freundinnen Eis essen, Pyjamapartys feiern und im Pool baden. Die Van Apfels, eine sehr religiöse Familie – extrem strenge Eltern. Die Mädchen, blond, lange Haare, dünn und schlaksig, die unter ihrem gewalttätigen Vater leiden, ein religiöser Fanatiker, der die Töchter zum Bibelstudium und zu Gebeten anleitet und diejenigen züchtigt, die die angeblichen Botschaften aus den Texten nicht richtig verstehen. Hätten Tikka und ihre Schwester damals verraten müssen, dass Cordie und Hannah das alles nicht mehr aushielten und abhauen wollten?, fragt sie sich heute. Denn das hier lief völlig anders als geplant – die Mädchen hatten Geld gespart, wollten Verpflegung und Bekleidung mitnehmen. Das hier lief kopflos – und wieso war Ruth dabei? Irgendetwas stimmt nicht an der Sache. Es gibt viele Ungereimtheiten. Wer hat damals noch etwas gewusst und ebenso geschwiegen? Cordie ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Sie ist die mutigste der drei Schwestern, diejenige, die sich den Zorn ihres Vaters zuzieht, weil sie sich nicht beugt. 


Zwei Perspektiven in einer Person

Der Roman untersucht Motive, Gefühle, Absichten aus allen Blickwinkeln, analysiert und weckt Erinnerungen der Menschen im Umfeld der Van Apfels. Warum haben die Erwachsenen so gehandelt, wie sie es damals taten? Wenn Tikka nun als Erwachsene die Ereignisse untersucht, muss sie sich fragen, ob sie und Laura - oder irgendeiner der Erwachsenen in der Umgebung - das Richtige getan haben, als sie Mr. Van Apfels Ausbrüche ignorierten, wegschauten und die Pläne der Mädchen geheim hielten. Tikka, die nie die Ereignisse von damals für sich aufgearbeitet hat, nie mit ihrer Schwester darüber sprach, hat das Geschehen nie losgelassen. Heute will sie Antworten finden. Ihre Schwester jedoch möchte die Sache ruhen lassen. Hier wechselt die Stimme der Perspektive. Die elfjährige Tikka erzählt aus der Kindersicht von den Ereignissen vor 20 Jahren. Die erwachsene Tikka analysiert, fragt nach. 


Ein Roman allen Facetten

Die Nachrichten zu der Zeit werden von der wahren Geschichte von Lindy Chamberlain beherrscht, der Frau, die zu Unrecht beschuldigt wurde, ihre kleine Tochter getötet zu haben, obwohl es wahrscheinlicher war, dass ein Dingo das Baby verschleppt hatte; die trotzdem verurteilt wird. Ein paar Jahre später wird das Urteil reviediert, da die Kleidung von dem Baby in einem Dingobau gefunden wird. Der Fall Chamberlain lagert als eigener Strang im Untergrund über der Geschichte, ebenfalls der Gestank des Flusses, der Mangroven, den nur Tikka wahrnimmt. Hier stinkt es abscheulich, zu unangenehm, um sich damit auseinanderzusetzen. Felicity McLeans Stärke liegt in der Entwicklung der Charaktere und in der Atmosphäre. Das Kind betrachtet in idealer Tonlage naiv das Geschehen, die Erwachsene Tikka forscht nach, stellt Dinge in Frage. Die Bedrohung liegt offen. Doch wer trägt Verantwortung? Tikka resümiert, sie sei verantwortlich gewesen, gleichzeitig aber nicht schuldig. Ein Gothic-Roman, Kriminalliteratur oder was auch immer. Hier wird wieder deutlich, dass Kriminalliteratur schlicht Literatur ist (auch wenn mancher überheblich das Gegenteil behauptet, in Unkenntnis guter Kriminalliteratur),  ein Roman in allen Facetten; was auch immer sich der Lesende unter diesem Begriff vorstellt. Kriminalliteratur befasst sich mit den Schattenseitenseiten der Gesellschaft, schaut tief in sie hinein, fragt nach dem Warum. Und genau das macht Felicity McLean auf eine sehr fein konstruierte Art. 


Felicity McLean ist Autorin und Journalistin. Ihr Debütroman «The Van Apfel Girls Are Gone» wurde in mehr als einem halben Dutzend Ländern veröffentlicht. Das Buch war in der Barnes & Noble-Auswahl «Discover Great New Writers» in den USA und wurde für den Indie Book Awards, den britischen Dagger Awards und die Davitt in die engere Wahl gezogen.



Felicity McLean 
Cordie
Originaltitel: The Van Apfel Girls Are Gone
Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
Mit einem Nachwort von Sonja Hartl
384 Seiten, Klappenbroschur
Kriminalroman, australische Literatur, Gothic-Literatur
Polar Verlag, 2021






Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste von Jakob Hein

  Der neue Assistent der Ostberliner Plankommission, Grischa, soll sich um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan kümmern. Genosse Burg, der Chef, erklärt das Problem: «Die Afghanen haben nichts.» Grischa ist kreativ, bricht in die Monotonie der alten Männer ein, vor Arbeitskraft strotzend, und er äußert eine verwegene Idee. Grischas Chef kommt aus dem Staunen nicht raus, ebenso die greisen Minister im Zentralkomitee: Wir lassen die Genossen in Afghanistan Medizinalhanf produzieren, den wir an die Bürger der BRD gegen kräftige Devisen verkaufen. Ein Schelmenroman, eine coole Persiflage, die satirisches Licht in diese Angelegenheit bringt, auf jeden Fall gute Unterhaltung. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste von Jakob Hein

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Die Welt der Haie von Darcy Dobell und Becky Thorns

  Lerne die faszinierenden Lebewesen der Ozeane kennen  Haie zählen zu den ältesten Lebewesen dieser Erde. Sie schwammen bereits durch die Ur-Ozeane, lange bevor es Dinosaurier gab. Viele Legenden ranken sich um die Tiere mit den furchteinflößenden spitzen Zähnen. Doch wie gefährlich sind Haie wirklich? In diesem Buch erfahren wir nicht nur, weshalb Haie Überlebenskünstler sind und wie viele verschiedene Arten wir heute kennen, sondern auch einiges über ihre besonderen Gebisse, ihr eigentümliches Seitenlinienorgan und ihren ausgezeichneten Geruchssinn. Ein sehr feines Sachkinderbuch zum Thema Meerestiere – Haie, ab 5/6 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Welt der Haie von Darcy Dobell und Becky Thorns 

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox