Rezension
von Sabine Ibing
Ciros Versteck
von Roberto Andò
Der erste Satz:
Splitternackt, den Blick starr auf einen gelblichen Fleck an der Wand gerichtet, sinnierte Gabriele Santaro auch an diesem gärigen Spätsommermorgen über die Wahl des Gedichts, zu dem er sich rasieren würde.
Der Klavierlehrer und Musikdozent am Konservatorium, Gabriele Santoro, lebt zurückgezogen im neapolitanischen Viertel Forcella. Durch das Fenster beobachtet er eine gewisse Unruhe auf der Straße. Während er kurz seine Haustür offenstehen lässt, um dem Briefträger entgegenzugehen, schleicht sich der zehnjähriger Ciro in seine Wohnung. Es ist der Sohn eines Nachbarn, eines Camorramitglieds. Der Junge bittet Gabriele, ihn zu verstecken. Etwas bewegt den Mann an dem verlotterten Jungen und er willigt ein, fragt nicht warum, obwohl er ahnt, in welche Schwierigkeiten ihn das bringen könnte. Langsam nähern sich die beiden an und Ciro, der scugnizzu, ein Straßenjunge, erklärt ihm, er habe zusammen mit seinem Freund einer alten Frau die Handtasche stehlen wollen. Weil die Alte nicht loslassen wollte, sei sie gestürzt, liege nun im Krankenhaus, ins Koma gefallen. Und das Allerschlimmste: Sie ist die Mutter des Mafiabosses De Vivo, was sie nicht gewusst haben.
Es entwickelt so etwas wie eine Vater-Sohn-Beziehung
Glaubste etwa, ich hab Schiss hier rauszugehen? Ich weiß, wie man einen abmurkst. Vor zwei Wochen hab ich zwei Scheißkerle verrecken sehen.›
Schweigend ließ der Maestro seinen dumpfen Zorn über sich ergehen.
Schon bald tauchen Camorraleute bei Gabriele auf, bitten um Einlass in die Wohnung. De Vivos Männer sind überall im Haus und im Quartier postiert. Der Junge versteckt sich hinter einer Klappe, sobald jemand klingelt, die Wohnung betritt. Das Haus wird streng überwacht. Im Laufe der Tage entwickelt Gabriele eine väterliche Zuneigung für den Jungen, der langsam Zutrauen findet, anfängt, Bücher zu lesen, sich das Klavierspielen beibringen lässt, zeigt sich als begabter Schüler. Ciro erlebt eine neue Welt, die nicht von Gewalt geprägt ist, er darf Kind sein, spielen, basteln und Gabriele spielt mit ihm alles Mögliche. Und Gabriele erfährt etwas über den gewalttätigen Vater von Ciro, einem Camorramitglied, erfährt von dem dem Waffenversteck und Mordaufträgen. Dieses Leben kann der Junge für den Moment abstreifen, es entwickelt so etwas wie eine Vater-Sohn-Beziehung, die beide genießen; und der Junge erlebt erstmalig Fürsorge und Zuneigung, gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Denn Gabriele verurteilt nicht, was Ciro getan hat, er weiß, dass dies das Los der Kinder aus dem armen Viertel ist. Doch die Lage spitzt sich zu. Gabriele gerät immer mehr unter Verdacht, den Jungen bei sich zu beherbergen. Die Eltern von Ciro können nicht helfen, sie müssen ihr Kinder opfern, um den Überfall zu vergelten – und der Vater scheint damit sowieso keine Schwierigkeit zu haben. Gabriele bittet seinen Bruder, einen Staatsanwalt, ihm zu helfen. Der ist brüskiert, dass er überhaupt danach gefragt wird. Gibt obendrauf, dass Gabriele der Kindesentführung angeklagt wird, solle das herauskommen. Gabriele muss handeln, auf sich allein gestellt!
Kriminalliteratur die berührt
Ciros Züge waren gelöst, er sah ganz anders aus als in den ersten Tagen. Er wirkte ruhig und entspannt, als hätte er endlich begriffen, dass er ihm vertrauen konnte.
In den Anblick des Jungen versunken, verlor Gabriele jedes Zeitgefühl.
Eine moderne griechische Tragödie, ein Drama, aber auch Sozialkritik – ein Prosastück, das bewegt. Denn es ist klar, dass hier eine Sache ins Rollen geraten ist, die für alle Beteiligten mit dem Tod enden könnte. Eine Kriminalgeschichte, die sich am Ende zuspitzt, poetisch geschrieben, literarische Kriminalliteratur die berührt. Das Buch wurde bereits verfilmt.
Roberto Andò, 1959 in Palermo geboren, ist ein italienischer Regisseur und Autor. Sein Filmdebüt Il manoscritto del principe ist den letzten Lebensjahren von Giuseppe Tomasi di Lampedusa gewidmet. Er arbeitet als Regieassistent mit Francesco Rosi, Federico Fellini, später mit Michael Cimino und Francis Ford Coppola. Leonardo Sciascia regt ihn zum Schreiben an. Seit 1980 wechselt er zwischen Theater- und Kinoarbeit. Mit seinem Romanerstling Il trono vuoto gewinnt er den Premio Campiello opera prima.
Ciros Versteck
Originaltitel: Il bambino nascosto
Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull
Kriminalliteratur, literarischer Krimi, italienische Literatur, Mafiakrimi
Taschenbuch, 231 Seiten
Folio Verlag 2021
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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