Rezension
von Sabine Ibing
C’est la fucking vie
von Michaela Kastel
Erste Seite unten: Was uns verbindet, ist mehr als nur ein Band. Wir sind wie Lichtpartikel, die unaufhörlich umeinanderkreisen, und geht einer von uns verloren, leuchten die anderen ihm den Weg zurück nach Hase. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie alle täte. Allein zu sein, würde mich umbringen.
Wien, Sanni hat die Matura in der Hand, feiert in ein paar Tagen ihren 18. Geburtstag. Ein neues Leben beginnt. Doch bis dahin genießen sie und ihre Freunde zunächst die Hitze des Sommers: An den See fahren, Partys feiern, in Clubs abhängen. Keiner von ihnen weiß genau, was er nach dem Abitur nun anfangen soll. Sanni will vielleicht erstmal per Backpacking nach Australien, das Leben genießen, dann weitersehen. Einzig Niko weiß halbwegs, was er will: Er hat ein Stipendium an einer englischen UNI erhalten, Niko, der ohne lernen immer die besten Zensuren vorweisen konnte, Niko, der allerbeste Freund von Sanni, mit dem sie so ziemlich alles teilt. Sanni war noch nie verliebt, versteht nicht, welches Trara darum gemacht wird. Sie will frei sein, leben, machen, was ihr gefällt. Das sehr attraktive Mädchen zieht Jungs an wie Honig die Bären; sie nimmt, was sich anbietet, ohne darüber nachzudenken, fast jeden Abend einen anderen. Vollaufen lassen, tanzen, ein One-Night-Stand und tschüß … Niko tickt völlig anders als Sanni: Er ist strukturiert, verantwortungsvoll, er sucht eine Beziehung. Und jedes Mal, wenn er eine Freundin hat, funkt Sanni dazwischen, zeigt der anderen, dass sie die wichtigere Freundin ist. Niko gibt es nur im Doppelpack. Schnell trennen sich die Mädchen von Niko. Jeder in der Cique weiß, dass Niko Sanni liebt … Und dann ist es soweit – Niko gesteht Sanni, was er will: Beziehung oder die Freundschaft ist zu Ende. Denn eigentlich will Sanni auch Niko … doch sie will gleichzeitig frei sein. Schafft sie es, in einer Beziehung glücklich zu sein? Gibt es so etwas wie Liebe? Vor was fürchtet sich Sanni?
Freiheit über alles
Keine Lügen, kein Aufplustern oder Verstecken, nur die nackte, rohe Wahrheit. Je roher, desto besser. In der Rohheit der Dinge liegt ihr ganzer Reiz. Bei mir gibt es keine Fassade. Wer mich nimmt, kriegt, was er sieht.
Die Perspektive ist interessant. Sunni berichtet über diesen Sommer aus ihrer Sicht spricht Niko in vielen Passagen mit du an – als wolle sie mit diesem Text ihm ihr Handeln rechtfertigen, erklären, wie sie tickt. Der Leser wird auf die Ebene des geheimen Beobachters gesetzt. Wir erfahren eindimensional alles über Sanni, ihre Gefühle, ihre Einstellung. Sanni ist präsent, ein wenig auch Niko, die anderen Protagonisten treten stark in den Hintergrund. Ein junger Mensch, der sich selbst sucht, seinen Weg ins Leben finden muss. Das Ganze klingt auch sehr ichbezogen, denn über andere Menschen macht sich Sanni keine Gedanken, auch nicht darüber, wie sehr ihr Handeln andere verletzen könnte. Niko ist ihr wichtig, doch obendrüber steht immer Sanni selbst. Jede Form von einem Wir-Denken, ein gemeinsames Planen empfindet sie als Manipulation, als: Hier will einer über mich bestimmen. Letztendlich versucht Sanni auch, den Leser damit zu manipulieren. Die obercoole Sanni, die weiß wie man Partys feiert, die sich nimmt, was sie will, ist im Grunde eine tief verunsicherte junge Frau, die sich nicht entscheiden mag, wohin das Leben sie tragen soll. Sie lässt sich fließen, entzieht sich jeder Verantwortung: Keine Beziehung, kein Studium, erst mal reise, denn das Leben ist viel zu schön, um sich irgendwo festzulegen. Papas Geld macht es möglich. Sunni ist ein Scheidungskind, sie wohnt in einer WG in Wien, nah bei der Schule, mit Mama trifft sie sich hin und wieder in einem Chinaschnellimbiss. Papa wohnt im Vorort in einer schicken Villa mit einer schicken Frau, seiner ehemaligen Sekretärin. Sunni kann sie nicht leiden und umgekehrt. Sanni ist stark, kommt alleine klar – zumindest propagiert sie das nach außen. Allein gelassen – genau das scheint der Punkt, die Angst – nicht noch einmal im Stich gelassen zu werden. Wer liebt, der gibt etwas, wird verletzlich und kann enttäuscht werden. Wenn man das verstanden hat, versteht man die Wut, die in dem Mädchen steckt. «C’est la fucking vie»!
Wer will schon etwas über langweilige Leute lesen?
Ich glaube, allmählich verstehe ich, was es heißt, in einer Beziehung zu sein. Es geht nicht um Hingabe, sondern um Aufopferung. Vielleicht sind Hingabe und Aufopferung sogar ein und dasselbe. Ich wünschte, Liebe wäre simpel.
Ein interessantes Buch für Jugendliche – meiner Meinung nach ab 16/17 Jahren. Der Überreuter Verlag empfiehlt es ab 14 Jahren – dem würde ich heftig widersprechen. Hier geht es um junge Leute, die die Reifeprüfung bestanden haben, um Beziehungen und Lebensentscheidungen für die Zukunft, um saufen, Partys, Clubs, Sex (jede Menge). Klar, vom sprachlichen Aufbau ist es auf Jugendliche zugeschrieben, junge Erwachsene, ich würde die Story nicht mal als Allage klassifizieren. An manchen Stellen ist der Plot ein wenig unglaubwürdig, aber nicht störend. Auch glaube ich nicht, dass es in der gesamten Clique niemanden gibt, der nach der Matura so gar nicht weiß, was er denn anfangen soll, nicht mal der strukturierte Niko, der zwar ein Stipendium für eine Elite-UNI hat, aber nicht weiß, welches Fach er wählen soll. Und dann studieren sie im Oktober einfach mal Jura, Lehramt, Medizin, BWL … so ganz ohne Berufung? Zu irgendwas zwingt einen das Leben ja … Eins sei garantiert: Sanni ist anstrengend – und genau das macht den Jugendroman lesenswert. Wer will schon etwas über langweilige Leute lesen?
Michaela Kastel wurde 1987 in Wien geboren. Nach ihrem Abschluss an einer katholischen Privatschule studierte sie sich quer durch das Angebot der Universität, ehe sie das Studentendasein an den Nagel hängte und in die Buchbranche einstieg. Sie lebt in Wien. Für «So dunkel der Wald» wurde Michaela Kastel mit dem Viktor Crime Award 2018 ausgezeichnet. Die Filmrechte zu «So dunkel der Wald» wurden noch vor Erscheinen optioniert.
Michaela Kastel
C’est la fucking vie
Jugendroman, Coming of age
Seitenanzahl: 384
Überreuter Verlag, 2020
Lesealter: ab 14 Jahre
Kinder- und Jugendliteratur
Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen!
Kinder- und Jugendliteratur
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