Rezension
von Sabine Ibing
Blutrote Tulpen
von Ibon Martín
Der erste Satz:
Santi wirft einen letzten Blick in den Rückspiegel, bevor er die Türen des Waggons schließt; auf dem Bahnsteig ist niemand mehr.
Santi, der bis dato unterirdisch die U-Bahn in Bilbao gefahren ist, darf nun die S-Bahn «Reserva de la Biosfera de Urdaibai» durch das Naturschutzgebiet lenken. Mit seiner Frau ist auch wieder alles im Lot, die Ehekrise ist überwunden. Glücklich erfreut er sich der Aussicht seiner Heimat, als er eine Frau auf den Gleisen sieht. Er macht eine Vollbremsung, weiß, dass es zu spät ist. Warum verschwindet sie nicht? Nun erkennt er, es ist seine Frau, die auf einem Stuhl gefesselt auf den Gleisen steht. Stahl auf Stahl kreischt, Funken fliegen; der Zug fegt die Frau von den Gleisen. Das Unglück wird live im Internet übertragen.
Ist hier ein Serientäter unterwegs?
Zur Ergreifung des Täters wird eine UEHI einberufen, eine Spezialeinheit für besondere Mordfälle, Serientäter oder Straftaten in Zusammenhang mit Prominenten. Die Einheit wird geleitet von Suboficial Ane Cestero; mit dabei Agente Aitor Goenaga, Suboficial Txema Martínez (der sich bereits auf diesem Posten gesehen hatte), die Psychologin Silvia und die ortsansässige Polizistin Julia Lizardi. Was bedeutet die rote Tulpe, die das Mordopfer in der Hand hielt? Eine Menge Leute könnten Interesse haben, sich an der bekannten Radiomoderatorin zu rächen. Doch schon gibt es ein weiteres Mordopfer, bei der eine Tulpe gefunden wird. Welche Verbindungen gibt es zwischen den beiden? Schließlich führen sie die Ermittlungen zu einem alten Nonnenkloster - und in Julia Lizardis eigene Vergangenheit.
Keine neuen Themen
Der Unterschied zwischen meinen Brüdern und uns Mädchen war extrem. Sie hatten ihre Freiheit, wir nicht. Martín, Jesean, José Mari konnten zu Hause ein und aus gehen wie sie wollten, Begoñaund ich hingegen mussten alles, was wir taten, erklären. Die Jungen konnten mit Mädchen überall hingehen, während wir die Erlaubnis, mit einem Freund spazieren zu gehen, regelrecht erflehen mussten.
Der Anfang war gut, doch als die ersten Ermittler vorgestellt werden, war ich drauf und dran, das Buch zu beenden. Die flachen Dialoge wirkten so aufgesetzt. Es wird später besser, und die Story ist spannend – aber wirklich überzeugen konnte mich der Krimi nicht, weil er an vielen Stellen schwächelt. Man kann sagen, das Buch steckt voller Klischees, was auch stimmt – andererseits ist eben sehr viel Wahres dran, wenn es um geschlechtsspezifische, familiäre und strukturelle Gewalt in der Vergangenheit von Spanien geht, um Verbrechen der katholischen Kirche; Themen, die in vielen Romanen immer wieder aufgegriffen werden. Ebenso wird das heutige Problem von Armut angesprochen, die Problematik der Fischer, deren Arbeit kaum noch zum Überleben reicht, was dazu führt, dass viele Menschen zum illegalen Muschelfischen übergehen, und ebenso ist an der Küste mit Drogenhandel gut Geld zu verdienen. Der Autor hat eine Menge Problematiken angerissen, bis hin zu Korruption im Amt, Immobiliengeschäfte, überteuerte Mieten – schlicht zu viel, um irgendetwas vernünftig auszuerzählen.
Schöne Vignetten zum Baskenland
Was mir gefallen hat, sind die Einschübe zum Baskenland. Der Autor nimmt uns mit in ein Naturparadies rund um die Stadt Gernika und zu interessanten Orten wie Urdaibai, Bermeo, Murueta, San Pedro de Atxarre, San Juan de Gaztelugatxe, Cabo Ogoño, Bosque de Oma, Mundaka oder Las Marismas, die Burg von Arteaga, der Wald von Oma. Manch einer wird Lust bekommen den Norden der Iberischen Halbinsel mit dem Biosphärenreservat Urdaibai zu besuchen, das vom Fluss Oka durchzogen ist, der in Mundaka mündet, ein beliebtes Ziel für Surfer. Die sumpfigen Ufer verändern die Landschaft durch die Gezeiten. Gleich anfangs fahren wir mit dem Zugführer in der S-Bahn durch das Gebiet, das immer wieder thematisiert wird. Ibon Martín ist Reisejournalist – drum sind diese Passagen für mich die besten in diesem Krimi, allein dafür ist er lesenswert. Tintenfisch scheint die Hauptmahlzeit zu sein, und es regnet ziemlich viel in dieser Region.
Er hat diese dunklen Augen, deren Blick sie immer noch zum Schmelzen bringen kann, und sein Pony ist von der Sonne und dem Salzwasser gebleicht. Hinzu kommen seine ständige Bräune und die gestählten Muskeln vom Surfen.
Die Handlung an sich ist abgedroschen, ihr fehlt Originalität – nichts, was andere bereits zigmal vorgelegt haben, gängigen spanischen Klischees von Machismo, geschlechtsspezifischer Gewalt, Homosexualität, kriminelle Nonnen der katholischen Kirche. Die supertaffen Frauen, die den Männern die leitenden Jobs wegnehmen, zeichnen sich mit einem kindischen Feminismus aus, der nur von einem Mann zu Papier gebracht werden kann. So stellt Mann sich das vor: Frauen die Machismosprüche machen, Männer verprügeln, im Verhör Verdächtige scharf angehen, auch körperlich, Türen eintreten ... bestimmte Autoren, sollten sich doch lieber männliche Hauptprotagonisten wählen. Das wirkt nämlich verdammt aufgesetzt. Alle Protagonisten sind flache Charaktere, ohne Alleinstellungsmerkmal, allesamt haben sie kaputte Beziehungen hinter sich – mit Kollegen. Insgesamt gelingt Ibon Martín hier keine glaubwürdige Darstellung seiner Figuren, sie wirken stereotyp und schablonenhaft. Wiederholungen gibt es leider ohne Ende, wie Julia zum Beispiel, die allabendlich gefährlich weit ins Meer hinausschwimmt, um die Natur zu körperlich spüren. Die Hauptprotagonisten begehen einen Fehler nach dem anderen (Gewalt, Alleingänge), die normalerweise zu Versetzungen geführt hätten; sie haben private Probleme, die von der eigentlichen Handlung ablenken und eine Ermittlerin ist auch noch privat involviert. Das Motiv des Täters ist nachvollziehbar, die Umsetzung leider nicht stimmig. Denn warum inszeniert er einige Morde medienwirksam, andere nicht, so dass er selbst die Ermittler auf diese Spur hinweisen muss? Die Spannung am Ende wird immer wieder durch Privates abgewürgt. Und so kommen am Ende mehr als 500 Seiten zusammen. Und – der Autor ist ein Erklärer ... Gut, für den Ausländer war das hilfreich, als Spanier hätte ich mich geärgert, wenn mir der Autor meine Polizeistrukturen und anderes Selbstverständliche erklärt. Sprachlich bewegt sich der Roman auf schlichtem Niveau, die Dialoge sind oft recht flach. Man hätte das Ganze um ein Drittel kürzen können. Der Krimi ist einigermaßen spannend, ausladend, interessant zum Thema Baskenland – so etwas wie ein Regiokrimi – etwas zur Entspannung für zwischendurch.
Ibon Martín wurde 1976 in Donostia geboren. Er studierte Journalistik und begann seine literarische Karriere zunächst mit einem Reiseführer über das Baskenland, darauf folgten mehrere Kriminalromane. 2019 wurde er zu einem der herausragendsten Thriller-Autoren Spaniens gekürt. »Blutrote Tulpen« ist der Auftakt einer neuen Thriller-Reihe des Autors
Krimi, spanische Literatur, Kriminalliteratur, baskische Literatur, Regiokrimi
Taschenbuch, 512 Seiten
Heyne, 2021
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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