Direkt zum Hauptbereich

Rezension - Super, und dir? von Kathrin Weßling

Rezension von Sabine Ibing





Super, und dir? 

von Kathrin Weßling


Der Anfang: Heute ist mein Geburtstag. Ich bin einunddreißig Jahre alt, mein Körper wohl eher einhundertfünf – zumindest fühlt er sich so an.

Marlene Beckmann will immer die Beste sein. Sie möchte, dass ihre Eltern stolz auf sie sind. Immer fleißig, Einser-Abitur, guter Studienabschluss und dann der erste Job. Na klar: Volontärin für Marketing, eine Arbeit auf Zeit, ein Job der Bewährung. Maja heißt die andere Volontärin. Die erscheint Marlene leblos, unscheinbar, nicht fleißig genug. Nach einem Jahr wird sich entscheiden, wer von beiden den festen Vertrag bekommt und Marlene will ihn. Marlene ist perfekt, das bekommt sie von Maja auch mal um die Ohren gehauen, immer makellos gestylt, immer überpünktlich und zu Überstunden bereit und immer fleißig, perfekte Präsentationen, immer ein Lob vom Chef. 

In dieser Branche und in diesem Job unterscheiden wir nicht zwischen Privat und Arbeit. Es gibt nur das Unternehmen.

Privat ist ab heute gleich Job!

Der Chef macht klar: Privat ist ab heute gleich Job! Doch was ist der Preis für Überstunden? 70 Stunden die Woche im Büro, Nacharbeiten am Wochenende zu Hause, wie übersteht man das? Ritalin, eine Prise Speed, eine Line Koks, in der Nacht Schlafmittel, um wieder herunterzukommen. Marlene erzählt rückblickend kurz von Kindheit und Jugend, dann geht es rasend schnell um das letzte Jahr. «Alles super», sagt sie jedem, postet auf Facebook und Instagram aus ihrem Super-Leben Super-Selfies, es geht ihr bestens, super Job. Sie arbeitet in einem angesagten multinationalen Unternehmen, sie hat 532 Freunde auf Facebook, ihr Freund liebt sie, die beiden wollen zusammenziehen, ein gemeinsamer Urlaub auf Teneriffa steht an. 

Dabei sah es gar nicht so schlecht aus, dieses Leben. Es sah sogar ziemlich vielversprechend aus. Mein Leben. Bis es auseinanderfiel und damit auch alle Versprechen brach, die es mir und allen anderen gegeben hatte.

Im Sauseschritt läuft Marlene auf den Zusammenbruch zu

Marlene wird immer dünner, isst kaum etwas, zieht immer mehr Lines durch die Nase, haut immer mehr Tabletten hinein. Sie braucht immer mehr, um sich wach zu halten. Die wenige Zeit, die ihr bleibt, verbringt sie im Fitnesscenter, man muss ja auf seine Gesundheit achten, sie kauft gesund ein, man will ja kein Gift essen, wer gesund lebt, ist leistungsfähig. Abends im Club zieht sie Koks rein, machen ja alle. Im Sauseschritt läuft Marlene auf den Zusammenbruch zu, auf ihren einunddreißigsten Geburtstag. Irgendwann hilft auch kein Make-up mehr, um ihr ausgemergeltes Gesicht zu verstecken, Haare fallen aus, die Nase blutet.

Nein, fair wäre, wenn du mich jetzt in Ruhe lässt. Oder nackt zur Party gehst, ziehe ich an, was du willst. Deal?

Marlene ist eine unsichere Frau, für sie ist wichtig, was andere von ihr denken. Gute Zeugnisse, gute Bewertungen, viele Likes. Sie muss perfekt sein, perfekt aussehen, ihre wirklichen Bedürfnisse steckt sie zurück. Was ihr noch fehlt, ist eine Beziehung, eine perfekte. Sie trifft auf Jakob, in einem schlechten Augenblick, völlig verhuscht, durchgeregnet, die Wimperntusche verschmiert vom Regen. Er verliebt sich in das aufgeweichte »Pandamädchen«, das so gar nicht perfekt aussieht. Und es ist Jakob, der ihr immer wieder zeigt, wie unwichtig es ist, das zu tun, was andere verlangen. Aber auch Jakob schaut letztendlich weg.

Du kapierst natürlich nicht, warum ich so viel arbeite und warum mir das so wichtig ist. Dir wurde ja auch alles immer in den Arsch geschoben. Ha, was sage ich: Wurde? Das ist ja noch immer so.

Perfekt, gestylt, einfach himmlisch

Kathrin Weßling beschreibt den Weg eines Selbstbetrugs. Ich muss super sein, damit die Welt mich mag! Und dafür gebe ich alles! Keine Fehler machen, immer drauf achten, dass andere mich positiv sehen. Für Marlene ist es sogar wichtig, dass Jakob, als sie ihn das erste Mal auf einer Party den Freundinnen vorführt, so aussieht, wie es die anderen wohl erwarten: perfekt, gestylt, einfach himmlisch. Jakob macht nicht mit – er ist Jakob! Marlene ist nach außen gerichtet, blendet das Innere aus. Von klein auf ist sie auf Leistung getrimmt, auf das Funktionieren. In höllischem Tempo rast die Icherzählerin durch das Buch. Der Leser nimmt teil an ihren Gefühlen, Gedanken, an ihrem Selbstbetrug, an ihrem Zerfall. Stress, Kopfschmerzen und Übermüdung, Depressionen Angstzustände, Herzrasen, Aufputschen durch Drogen, Herunterkommen durch Schlaftabletten, der Körper wird ausgepresst wie eine Zitrone. Marlene ist ein Extrembeispiel, bei anderen Menschen nimmt es einen schleichenden Weg, das Ergebnis ist am Ende gleich: schwere Depression, körperlicher Verfall. Ist Marlene selbst schuld? Sicher nicht allein. Schon in ihrer Kindheit ist sie auf Hochleistung getrimmt, der Arbeitgeber verlangt die Selbstaufgabe, lässt sie offen ins Messer rennen. Als auch noch der ersehnte Urlaub gestrichen wird, weil es wichtiges zu tun gibt, ist der Stecker herausgezogen. Marlene bricht zusammen. Der Chef ist enttäuscht, er hätte mehr erwartet. Der Freund stellt immer wieder fest, sie sei nur noch Haut und Knochen, sie arbeite zu viel. Aber den heimlichen Gebrauch von Drogen bekommt er nicht mit. Will er es nicht sehen? 

Kathrin Weßling nimmt uns mit auf einen Höllenritt

Der Roman beginnt und endet mit dem Zusammenbruch. Schnell, gnadenlos, eine schnörkellose Sprache, Kathrin Weßling nimmt uns mit auf einen Höllenritt. Der Text schockiert, er ist heftig durch seine Ehrlichkeit. Rückblickend, fragt sich Marlene, wie alles zusammenhängt, wo der Anfang der Geschichte liegt, an welcher Stelle sie etwas falsch gemacht hat. Zu welchem Zeitpunkt hätte sie auf die Bremse steigen müssen? Liebe Marlene, die Stelle liegt ganz weit zurück. Aber das ist ein anderes Thema. Das Berufsleben, das sie beschreibt, ist grausam. Ein netter, smarter Chef, der sie fordert, lobt, ihr zeigt, dass sie besser ist als die andere. Die Banane an der Angel, der beneidenswerte Job. Die Affen auf dem Fahrrad, die Volontäre. Das Geld, das lockt, die Unabhängigkeit, den anderen zeigen: Ich habe es geschafft! »Super, und dir? » 
Bringen wir unseren Kindern früh bei, »Nein!« zu sagen, sich zu distanzieren, bringen wir ihnen Selbstbewusstsein bei, negative Gefühle zuzulassen. »Wie gehts?« – »Voll beschissen, und dir?«


Die Journalistin Kathrin Weßling weiß, wovon sie schreibt. Ihr Roman ist ehrlich und hat auch sicher autobiographische Züge. Sie sagte in einem Interview mit »Die Zeit«:

Meine Erwartung war, dass ich 120 Prozent gebe, am besten nine to nine, und krass Karriere mache. … Meine Kündigung war tatsächlich meine Rettung. Vorher hatte ich extreme Probleme, ich war dauernd krank. 

Sie habe einen Monat nur geschlafen, sagt sie, so ausgepowert sei sie gewesen, habe ihre Arbeitseinstellung überdacht und sich neu orientiert. 

Freitags habe ich mich oft allein betrunken und dann das Wochenende in einer Art Koma verbracht. … Ich konnte mich einfach nicht noch mit Leuten unterhalten.

Wie  ihre Protagonistin ist sie an ihrem Geburtstag nicht ans Telefon gegangen, ihre Freunde seien sozusagen in ihre Wohnung eingebrochen. Heute ist Kathrin Weßling selbstständig, sie berät Redaktionen, Verlage und Autoren, zur Optimierung ihrer Social-Media-Aktivitäten. Bisher sind zwei Bücher von ihr erschienen: Drüberleben, 2012 und Morgen ist es vorbei, 2015. Außerdem schreibt sie Texte für Spiegel Online, Stern, Zeit online, Neon, Jetzt, SZ.


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner