Direkt zum Hauptbereich

Berge von Jan Kjærstad - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Berge 


von Jan Kjærstad


Der Anfang:

Es sollte sich als ein Verbrechen herausstellen, das jedes Begriffsvermögen überstieg. Ein Wanderer hatte bei der Zeitung angerufen. Mehrere Menschen lagen ermordet in einer Hütte irgendwo tief in den Wäldern der Nordmarka. Abgeschlachtet, wie der Hinweisgeber sagte. Auf bestialische Weise. Unter den Toten befanden sich angeblich berühmte Personen. Sehr berühmte.

Terror, durchfährt es mich. Schließlich ist er auch hier angelangt


Zu Beginn der Geschichte steht der Mord an dem bedeutenden norwegischen Politiker Arve Storefjeld und an seiner Familie 2008 in einem Wochenendhaus am See Blankvann im Norden von Oslo – allen fünf Opfern wurden die Kehlen durchgeschnitten. Ganz Norwegen hält den Atem an, ist der Terror nun auch in ihrem Land angekommen? Die Welt schaut auf das einst so friedliche Land. Erzählt wird die Geschichte aus drei unterschiedlichen Perspektiven, in der Reihenfolge als drei Kapitel. Die brillante Journalistin Ine Wang, einst eine gefragte Journalistin, heute unbedeutend, bringt ihre gerade fertiggestellte Biografie von Arve Storefjeld im Sog nach oben an die Öffentlichkeit. Amtsrichter Peter Malm liebt sein zurückgezogenes, gemütliches Leben, mit ausgiebigen Spaziergängen durch die Stadt und beschaulichen Stunden in der Bar des Grand Hotel. Mit dem Prozess wird auch er in die Öffentlichkeit katapultiert. Am Ende kommt Nicolai Berge zu Wort, der dieser Tat beschuldigt wird. Er war eine Zeitlang mit Gry liiert, der Tochter Arve Storefjelds, die zu den Toten gehört. 


Für die Journalistin eine Erfolgsstory

Deshalb sehe ich in Ulriks Nachricht einen Rettungsanker, eine Chance, von hier wegzukommen. Diese Morde. Zahlreiche Menschen getötet im Wald. Ich wittere etwas, wittere einen gottgegebenen Stoff.


Die Journalistin Ine Wang steckt in einer persönlichen Identitätskrise. Früher galt sie als die Beste in ihrem Land, doch heute ist der Journalismus effekthascherisch und oberflächlich, ihre gut recherchierten Artikel ziehen nicht mehr. Ihr Mann und Kollege hatte sich von ihr scheiden lassen, sie wechselt die Zeitung und er folgt: als ihr Chefredakteur. Da sie viele Interviews mit Arve Storefjeld gemacht hatte, kommt sie auf die Idee, eine Biografie über den Vorsitzenden der norwegischen Arbeiterpartei zu schreiben, ein Buch, das gerade in der Endphase steckt. Der Mordfall kommt ihr und dem Verlag gelegen, denn der Umsatz ist nun gesichert. Ine Wang gelangt wieder in den Mittelpunkt der Medien, die Maschinerie der Vermarktung rennt auf vollen Touren. In diesem Kapitel wird sich sehr mit journalistischer Arbeit und Sensationslust auseinandergesetzt. Ist der internationale Terrorismus auch in Norwegen angekommen? Die Bevölkerung fällt in Angststarre. Auch für die Zeitung ist Wang plötzlich wieder attraktiv, aber sie will anders sein als der Rest der Journalisten, die sich auf einen Terroranschlag eingeschworen haben, kommt auf die Idee, Nicolai Berge zu interviewen, der eine Zeitlang mit der Tochter von Storefjeld zusammen war. Er kennt die Familie, zumal er auch eng in die Partei eingebunden ist. Ine Wang ist fasziniert von der Ausstrahlung des erfolglosen Schriftstellers, dessen Kurzgeschichten von der Fachwelt zerrissen wurden. Eine verkrachte Existenz als Autor und Blogger. Beim zweiten Interview haben beide eine sexuelle Begegnung und am Ende des Kapitels ist sie schwanger von ihm und macht eine grausige Entdeckung.


Der Richter kommt an seine persönlichen Grenzen

Wenn die Jahre im Gericht mich eins gelehrt haben, dann dass die Menschen hurten und betrogen, einander verrieten und töteten wie nie zuvor. Vom Richtertisch aus, nicht zuletzt in Strafsachen, sah und hörte ich wie lügenhaft und unheimlich brutal die Menschen sein konnten. An einem Tag umarmst du jemanden, am nächsten Tag schlägst du ihn zu Boden. Aber ist das das Böse?


Amtsrichter Peter Malm wirkt wie aus dem letzten Jahrhundert entnommen, in Habitus und Sprache, in seiner Langsamkeit, wie übrigens auch Berge. Der Leser geht mit ihm spazieren, trinkt Long Island Icetea mit ihm, schaut mit ihm Dokumentarserien der BBC aus den 1960er Jahren. Und schon wieder ein Autor! Der hier schreibt gerade an einem Buch über Recht und  Gerechtigkeit. Er bekommt den Fall Berge zugewiesen und steht nun in der Öffentlichkeit, die er scheut wie der Teufel das Weihwasser. Er fühlt sich überfordert mit diesem Fall, insbesondere, da der Angeklagte stoisch schweigt. Malm ist ein langweiliger Protagonist und genauso gestaltet sich für mich das Kapitel mit ewigen Beschreibungen – ich habe mich durchgeknabbert.


Der mutmaßliche Täter - eine Trauergestalt

Im dritten Kapitel kommt der Angeklagte Nicolai Berge selbst zu Wort. Wir erfahren viel über seine Kindheit und die Partei und seine Beziehung Gry Storefjeld. Berge, der Sohn eines Millionärs, der für die Arbeiterpartei kämpfte – Dinge, die für Berges Familie nicht im Widerspruch stehen, wohl aber für die Öffentlichkeit. Er fragt sich, wieso er angeklagt werden konnte, ist nicht bereit, auf die Fragen des Gerichts zu antworten. Seine damals von der Fachwelt als untalentiert bezeichneten Werke werden plötzlich zu Massen verkauft, neue Auflagen werden gedruckt. Er schreibt, weil er schreiben muss – und lebt vom Familienerbe.


Ein Roman mit ziemlich vielen Längen

Drei Autoren: Ine Wang schreibt, weil es ihr Beruf ist und sie gern mit ihrer Arbeit Erfolg haben möchte. Peter Malm schreibt, um die Probleme der Rechtssprechung dazustellen, eine wissenschaftliche Arbeit. Berge sieht sich als Schriftsteller, schreibt aus dem Inneren heraus. Das erste Kapitel zieht sich mit langen Beschreibungen, Innenansichten, Rückblenden, Beschreibungen der Außenwelt. Man muss Geduld mitbringen. Trotzdem wohnt dem Kapitel eine gewisse Hektik inne, eine Handlung folgt der nächsten, es gibt eine Grundspannung. Das Kapitel um Peter Malm war mir schlicht zu trocken, zu ereignislos, zu beschreibend. Ich war kurz davor, das Buch wegzulegen. Bei Berge wird es wieder interessanter, doch letztlich habe ich mich auch hier eher durchgehangelt. Natürlich thematisiert Kjærstads hier andeutungsweise den Fall Anders Behring Breivik. Mit der Zeitangabe 2008 legt er den Fall auf die Zeit davor. Sensationspresse ist das Thema. Jan Kjærstad kann wunderschön jede Einzelheit beschreiben auch tief ins Innere der Protagonisten versinken. Mir persönlich war der Roman insgesamt zu detailliert, ich hätte mir mehr Handlung, mehr Spannung gewünscht. Man kann das Buch als Gerichtskrimi einordnen – oder schlicht wie der Verlag, als Roman.


Jan Kjærstad zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Norwegens. Der 1953 in Oslo geborene Schriftsteller studierte Theologie, war Pastor und Jazzpianist, später Redakteur der norwegischen Literaturzeitschrift Vinduet. Er lebt in Oslo. Er erhielt die wichtigsten literarischen Auszeichnung Skandinaviens, wie den »Literaturpreises des Nordischen Rates«.


Jan Kjærstad 
Berge
Originaltitel: Berge, 2017
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
Gerichtskrimi, Krimi, Roman
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
504 Seiten
Septimeverlag, 2019



Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe