Direkt zum Hauptbereich

Azzurro von Eric Pfeil - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Azzurro 

von Eric Pfeil 

Mit 100 Songs durch Italien


Wer nun glaubt, eine Ansammlung von Liedertexten zu finden, der liegt völlig falsch. In «Azzurro» befasst sich Eric Pfeil mit bekannten italienischen Songs: ihren Songschreiber:innen und Sänger:innen, Anekdoten, Hintergrundwissen, mit dem dolce vita an sich – und er versucht, über die Musik Italien für sich zu verstehen. Im Vorwort erklärt der Autor, wie es zu diesem Buch kam, seine Liebe zu Italien ganz allgemein und die zu italienischer Musik. Lediglich die Hälfte der Songs waren mir bekannt – manche sind älter als ich und ich bin bereits über sechzig. Songs aus den letzten Jahren tauchen kaum auf – schade. Mir fehlten hier einige sehr wichtige Songs von Liedermacher:innen und die Erwähnung der Personen selbst. Zucchero Fornaciari wird nur einmal kurz erwähnt als «Zucchero Sugar Fornaciari, der notorisch kettenbehangene Hutträger». Bei der Auswahl handelt es sich um die Vorlieben des Autors, das muss man berücksichtigen und respektieren. Es gibt viel «Schlager» a la Ramazotti, wenig Rock und wichtige Songs der Liedermacher aus dem 80-ern fehlen für mich, Uraltes wird erwähnt, weit vor meiner Geburt, das selbst ich nicht kenne, interessantes Neues taucht nicht auf. 


Interessantes Hintergrundwissen


Italien war anfangs noch nicht bereit für Gianna Nannini: Gleich auf ihrem Debüt sang sie über Abtreibung.


Die italienischen Songs waren ja immer Meister der versteckten Anspielung. Auch Gianna Nannini nutzte das, doch sie brachte eher konkrete Worte auf den Tisch, oder schockierte mit Bildern. Auf dem Cover «California» hielt die US-Freiheitsstatue anstatt einer Fackel einen Vibrator in der Hand. Und in dem Song «America» singt sie zum Thema «Per oggi sto con me. Basto e nessuno mi vede.» – Heute bleibe ich alleine, ich genüge mir und niemand sieht mich. Ein Skandal in Italien! Mit diesem Album feierte Gannini in Deutschland große Erfolge, wurde hier ein Star. Über diesen Umweg punktete die provokative Sängerin später auch in Italien. Sie schrieb ihre Songs selbst. Unvorstellbar zu dieser Zeit, denn es war ein Job, der Männern vorbehalten war. Die Sängerin Mina machte es öffentlich, mit ihrem verheirateten Liebhaber ein Kind zu haben, sich nicht dafür zu schämen. Fernsehsender RAI boykottierte die junge Sängerin deshalb jahrelang.


Celentano  hatte Azzuro zunächst abgelehnt


Aber Antonello hat auch andere Themen drauf: Drogensucht, Abtreibung, Liebesglück und -leid, politisch motivierter Terror, Giftskandale, das italienische Fernsehen – der Mann hat ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein.


Lucio Dalla, Mina, Ricchi e Poveri oder Adriano Celentano, Lucio Battisti oder Francesco di Gregori, um einige der bekannten Sänger zu erwähnen, die hier mit ihren Songs vorgestellt werden. «Celentano ist Depp und Visionär, Revolutionär und Reaktionär, Mythos und Nervensäge, Christ und Clown, Prediger und Zwischenrufer, Exzentriker und Mann des Volkes», so charakterisiert Pfeil Celentano. 1965 «bekommt der Auftragssongschreiber» Paolo Conte (selbst bekannter Liedermacher) «einen Fuß bei Celentanos Label Clan Celentano in die Tür». Conte war sich sicher, dass «Azzurro» ein Hit werden kann und die Reibeisenstimme von Celentano dafür perfekt ist. Doch dem gefällt der Song nicht und Conte muss mehrere Tage Überzeugungsarbeit leisten, bis der Sänger den späteren Gassenhauer aufnimmt. Der Römer Antonello Veditti besingt gern seine Geburtsstadt und die Liebe, aber er widmet sich ebensogern sozialen und politischen Themen seiner Zeit. «Immer wieder verfällt Venditti während des dreistündigen Konzerts regelrecht ins Predigen. Dabei kommt er vom Hölzchen aufs Stöckchen: Es geht um Emanzipation, Abtreibung, bräsige Toskaner ...». Wir lesen, Milvas Gesangskarriere entsprang aus der Not. Als ihr Vater arbeitslos war, wollte sie die Familie unterstützen und fing an, durch kleine Gesangsauftritte zum Familieneinkommen etwas hinzuzuverdienen. Liebe und Politik bestimmten die meisten Songs in Italien und beeinflussten die Gesellschaft, wie kaum in einem anderen Land. Gigliola Cinquetti wird nur am Rande zum Sanremo Festival erwähnt. Ihr Song «SI», mit dem sie 1964 in Kopenhagen den Eurovision Song Contest für Italien gewinnt, hätte erwähnt werden sollen. Doch zwei Tage später stand ein Referendum zur Liberalisierung des Scheidungsrechts zur Abstimmung und konservative Kreise meinten, «SI» könne politisch gedeutet werden. Darum wurde sogar die Direktübertragung des ESC nicht erlaubt und erst am 12. Mai nachgeholt. Böse Stimmen behaupteten sogar, man habe den Song genau (ja zum Scheidungsrecht zu stimmen) deshalb gewinnen lassen! Schade, dass diese Geschichte in diesem Buch nicht erwähnt wird. Aber die von Luigi Tenco und seinem «Ciao Amore, Ciao». Der Säger erschoss sich in seinem Hotelzimmer, nachdem er mit dem Lied nicht das Finale des Wettbewerbs in San Remo erreicht hatte. «Ich tue das nicht, weil ich des Lebens überdrüssig bin (ganz im Gegenteil), sondern als Akt des Protests», so der Abschiedsbrief, wie Pfeil berichtet. 


Schwer durch das Buch hindurchzufinden

Leider hat das Buch kein Inhaltsverzeichnis, denn die Kapitel sind nach Liedtiteln organisiert ohne eine verständliche Ordnung – weder A-Z, oder Sänger A-Z, noch nach Jahreszahl. Es gibt zwar am Ende ein Namensregister, aber das nützt nur wenig, um sich zurechtzufinden. Insgesamt hätte ich andere Präferenzen bei der Liedauswahl gehabt, eine Menge waren mir erstaunlicherweise unbekannt, doch es ist ja auch nicht mein Buch. Interessant war das Sachbuch auf der einen Seite, auf jeden Fall, enttäuschend für mich persönlich auf der anderen, denn ich gehöre nicht zur «Schlagerfraktion» – zumindest habe ich alle Songs angespielt und einige vergessene sind auf meiner Playlist gelandet.


Eric Pfeil, wurde 1969 in Bergisch Gladbach geboren und fuhr schon kurz darauf zum ersten Mal über die Alpen. Um die Jahrtausendwende war er Produzent der legendären Musiksendung Fast Forward, seither ist er ein gefragter TV-Autor. Er schreibt u.a. für FAZ und Rolling Stone über Film, Literatur sowie über Popmusik und ihre Folgen. Er lebt in Köln, hat aber Italien nie wieder verlassen.


Eric Pfeil 
Azzurro
Sachbuch, Italien, Musik
Taschenbuch, 368 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 2022




Sachbücher

Hier stelle ich Sachbücher vor, die im Prinzip nichts mit Fachliteratur zu tun haben. Eben Sachbücher jeder Art, die ein breites Publikum interessieren könnte.
Sachbücher

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz