Rezension
von Sabine Ibing
Atlas der nie gebauten Bauwerke
von Philip Wilkinson
Eine Geschichte großer Visionen
Manche dieser Phantomgebäude sind Höhepunkte persönlichen Schaffens, andere sind entscheidende Schritte in der Entwicklung eines Architekten oder der Architekturgeschichte ... Manche hatten großen Einfluss auf andere Architekten, manche sind nur charmante Kuriositäten
Mit der Architektur hält es sich wie mit allen Künsten: Man mag das Werk oder man mag es nicht. Um ein Bild zu malen, ein Buch zu schreiben, braucht wenig materiellen Aufwand, um seine Ideen zu verwirklichen. Um ein Gebäude zu bauen, vielleicht sogar ein gigantisches, reicht die Idee nicht aus. Irgendjemand muss den Bau auch bezahlen. Dabei geht es ja nicht um Centbeträge. Ideen gibt es viele, vieles bleibt auch nur auf dem Papier bestehen. Philip Wilkinson hat in diesem Buch nie gebaute Bauwerke zusammengetragen: interessant, exzentrisch, gigantisch, kurios, fantastisch, durchgeknallt. Schade, sagt man bei dem ein der anderen Projekt – glücklicherweise bei der nächsten Idee.
Christ The King - eine byzantinische Kathedrale in Liverpool |
Der Idealbau eines Klosters
Schade, sage ich gleich beim ersten Projekt, es stammt aus dem Jahr 820 und zeigt den St. Gallener Klosterplan, entstanden auf der Insel Reichenau auf dem Bodensee, heute zu finden im Klosterbibliothek St. Gallen. Man geht aber heutzutage davon aus, dass dies ein »Grundplan für ein ideales Benediktinerkloster« sein sollte, denn auf dem Grundstück des St. Gallener Klosters wäre kein Platz für dieses Bauwerk gewesen. Wohlüberlegt umfasst das Kloster über 50 Gebäude in Reihen angegliedert, Platz für Handwerker und Landwirte eingeschlossen, sogar eine Fußbodenheizung ist vorgesehen. Eine riesige Anlage, die Brüder und Laienbrüder zusammenleben lässt, als geschlossene Einheit, in der nichts fehlt. Das hat natürlich seinen Preis. Und Klöster waren immer klamm bei Kasse.Casa nova - ein Haus aus Glas |
Riesige Ideen für London
Der »Whitehallpalace« von London ist ein gigantischer Protzpalast im italienischen Stil, den Jakob I gern gebaut hätte, ein Gebäude, das sich von der Themse bis zum Jams`Park erstrecken sollte. Der einzige Teil, der hiervon erbaut wurde, ein Körnchen vom Ganzen, steht heute noch: das »Banqueting House«.Sehr interessant zu lesen das Projekt »Thames Embankment«, das neben einem kolossalen Bau das Abwasserproblem von London lösen wollte. 1832 war die Themse eine riesige Kloake, was zu großen Gesundheitsproblemen führte.
»... dass man schneller von Brighton nach Waterloo käme, als von dort aus weiter nach Paddigton«. Genauso interessant ist der gläserne »Great Victoria Way«, der zur Lösung des Verkehrsproblems in London erdacht wurde.
So erstaunlich er von außen war, so verblüffend war auch sein Inneres. Er beherbergte zwei Stockwerke. Im oberen befand sich ein Speisesaal, der so ausgestattet war, dass er einem Wald mit unregelmäßig gepflanzten Bäumen glich. Ein kleiner Bach, der durch den Raum floss, sollte die Atmosphäre verbessern.
Stadtteile unter einer Glaskuppel
Über Geschmack lässt sich streiten, ich bin froh, dass dieser Elefant nicht mitten in Paris steht, aber staunenswert ist er allemal. Zumindest verziert er fein das Cover von diesem Buch. Der französische Architekt Charles François Ribart de Chamoust wolle 1785 die Siege König Ludwigs XV. nicht durch einen Triumphbogen in Szene setzen. Er entschied sich für einen gigantischen Elefanten, der am oberen Ende der Champs-Elysées stehen sollte. Der »Grand Kiosque à la Gloire du Roi« sollte durch einen Aussichtsturm begehbar sein, im Bauch waren ein Speisesaal und einen Ballsaal vorgesehen und aus dem Rüssel des Elefanten sollte eine Fontäne sprühen.Eine Kuppel über ganz Manhattan zu spannen, so lautete die Idee von Richard Buckminster Fuller. Man reduziert damit den Energieverbrauch, schützt die Stadt vor Hitze, Kälte, Staub, nie mehr Schnee schippen, er wolle Manhattan »in ein Paradies verwandeln«. Das mit dem Schneeschippen kann ich nachvollziehen.
1829 gab es mehr Leichen als Lebendige in England. Wohin mit den Toten? Der Architekt Thomas Willson hatte eine Lösung parat: Eine kolossale Pyramide, die Platz für bis zu fünf Millionen Leichen bot, 500 Meter hoch, auf der Spitze sollte sich ein Obelisk und eine Sternwarte befinden, platziert auf dem Primerose Hill, mitten in London. Der Mietpreis pro Grabkammer: 50 Pfund.
Walking City - eine Stadt, die laufen kann |
Auch etwas verrückt mutet die »Walking City« an, eine Stadt mit Beinen, das sich bewegen kann, weglaufen, vor dem atomaren Krieg. Ron Herron, 1964 entwarf dieses »vielstöckige, eiförmige Gebäude mit spinnen- und insektenartigen Beinen«.
Kenotaph für Isaac Newton |
Ein Haus für den Physiker Isaac Newton! Etienne-Louis Boullee entwarf 1784 ein Denkmal für den Physiker: Eine Kugel die 150 Meter in der Höhe maß! Höher als die Kathedrale von Straßburg.
Es gibt noch viele interessante Pläne in diesem Buch zu finden, das sich schmökernd lesen lässt.
Historische und soziale Eindrücke in die Geschichte fallen dabei ab. Manches ist schlicht Protz, aber andere Gebäude geben Sinn und sind vom Zeitgeist geprägt, andere sind schlicht amüsant. Unterhaltsam, humorvoll, mit viel Hintergrundwissen führt uns Philip Wilkinson durch seine Sammlung. Das ist ein Fachbuch, das nicht nur architekturbegeisterte Leser anspricht – eins für den Wohnzimmertisch. Jeder der kommt, blättert drin herum, aber legt es nicht mehr weg.
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