Direkt zum Hauptbereich

Anderes kenne ich nicht von Elisa Levi - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Anderes kenne ich nicht 


von Elisa Levi


Porque la muerte es un día y la vida son varios. – Denn der Tod ist ein Tag, und das Leben ist mehrere.


Ein Roman, für den ich ein paar Seiten brauchte, um hineinzufinden – und dann packte mich der Sog. Es ist ein emotionales Buch, ein Monolog, eine literarische Perle. Das Setting, ein kleines Dorf in Spanien, eins der fast verlassenen Dörfer in den Bergen, irgendwo im Nichts. Eine Stadt am Meer wird erwähnt, die in erreichbarer Nähe ist. Aber wer hier wohnt, der kommt nie aus dem Dorf heraus, wie die neunzehnjährige Lea, die ständig ein Brennen im Bauch fühlt – die hier weg will. Ein Dorf mit vier Straßen, einer Kirche, einem Lebensmittelladen und einem Wald, den sie nie durchquert hat, weil er gefährlich ist. Am Waldrand trifft sie auf einen Mann, dem sein Hund weggelaufen ist. Sie warnt ihn, in den Wald hineinzugehen. Wer dort hineingeht, kommt nie zurück. Aber die Hunde finden allein hinaus. Sie bittet ihn, sich auf eine Bank zu setzen, auf den Hund zu warten, und sie erzählt ihm, warum die Welt gestern unterging. 


Die Welt wird untergehen

Ich weiß ja nicht, wo sie herkommen, aber von hier läuft man weg und kommt nicht wieder. Wir sind verflucht. Unser Fluch ist ein Wald, aus dem es keinen Ausweg gibt ... Die Leute bilden sich ein, dass der Wald tödlich ist, dass die Bäume töten, aber das liegt nur daran, dass sie nichts anderes kennen. ... Ich glaube, dass diejenigen, die im Wald verschwinden, nicht sterben, sondern woanders hingelangen, dass sie den Stumpfsinn des Landlebens der kleinen Dörfer überwinden.


In diesem kleinen Dorf gibt es keine Privatsphäre, hier weiß jeder alles, jedes kleinste Geschehen ist ein Ereignis. Drum haben Schauergeschichten, Verschwörungstheorien, beste Möglichkeiten, sich zu verfestigen. Und gerade hält sich das Gerücht, die Welt wird untergehen. Für Lea ist die Welt bereits untergegangen – was wir am Ende erfahren werden. Ihre Mutter führt den kleinen Lebensmittelladen, hält die Familie gerade so über Wasser. Der Vater ist verstorben; und dann ist da noch Nora, Leas Schwester, «mit einem leeren Kopf». Sie ist ein Jahr älter als Lea, kann sich nicht bewegen, sitzt im Rollstuhl, bzw. liegt im Bett, muss umfänglich von der großen (die Mutter) und der kleinen Lea gepflegt werden.


Sie möchte durch den Wald gehen, wohin auch immer sie ankommen mag


Als ob die Welt irgendwann einmal für meine Schwester bereit wäre. Nein, Señor, das wird nie geschehen. Für meine Schwester ist die Welt in dem Augenblick gestorben, als sie geboren wurde.


Es gibt vier Jugendliche im Dorf. Javier, der nicht weiß, wie man über Liebe spricht, der sich von Lea küssen lassen möchte – sie liebt ihn nicht. Aber es gibt ja nur Javier und Marco. Catalina, ihre beste Freundin (es gibt ja keine andere), die weint und weint und weint, ständig in irgendwen verliebt ist, und Lea hat Marco, der ihr Geschenke auf der Fußmatte hinterlässt, der ihr sagt: «Ich weiß, dass du eine Schwester hast, die so nutzlos wie ein Ferkel ist.» Gegenüber den Fremden, die das Haus ihrer Großmutter gekauft haben, ist sie misstrauisch. Lea weiß nichts über andere Dinge, aber was sie weiß, was sie weiß, kann sie überall gebrauchen. Ihre Mutter ist überfordert in ihrer Trauer, mit der Pflege der Tochter und dem Lebensmittelladen; ihr fehlt manchmal die Kraft. Lea hilft, wo sie kann, insbesondere bei der Pflege der Schwester. Wir hören ihr zu, stellvertretend für den Mann, der auf der Bank sitzt, der kein Wort sagt – dazu käme er auch gar nicht – hin und wieder mit Mimik ein Lächeln oder ein Erstaunen zeigt. Lea möchte von diesem Ort verschwinden, in die Stadt am Meer gehen. Aber sie kennt nichts anderes, als zu pflegen und zu lieben; sie hat Angst vor einem anderen Leben dort draußen.


Liebe bindet und verankert


Denn so ist es hier schon immer mit der Liebe gewesen: Die Leute tun sich aus Trägheit mit dem zusammen, der in Reichweite ist, und dann schweigen sie sich beim Abendessen an und lassen sich auf dem Nachhauseweg Zeit, um nicht so schnell anzukommen. Und deshalb denke ich, ich muss von hier fortgehen.


Der Wald bildet die Grenzen für alles, was auf dieser Seite geschieht (und auch für das, was nie geschieht) Ein Monolog, aber trotzdem eine Erzählung, Dorfgeschehen; tief emotional mit wundervollen literarischen Passagen erklärt uns Lea, dass der Tod ein Tag ist und das Leben mehrere. Das schlimme Leben, das die Erinnerung füllt, auch wenn der Schmerz ein wenig zurückgeht. Doch wir müssen aufmerksam sein für neue Dinge, weil das Leben weitergeht, und dass die Liebe kompliziert ist, die Verantwortung für andere noch komplizierter. Denn die Liebe bindet und verankert, und wenn man einen Ort verlässt, dann entweder, weil man nicht mehr geliebt wird, nicht lieben kann, oder weil man die Enge nicht mehr aushält, weil man glaubt, dass es woanders viel besser sein könnte. Eine harte Geschichte, grobe Worte, die aber gleichzeitig durch die Emotionalität so weich wird, fast zu Tränen rührt.


Trostloses Landleben 


Die Leute wissen es nicht, aber Dörfer riechen nach Kuhscheiße und toten Tieren, die aufgestapelt werden, und nach Angst und Missgunst und Langeweile und Schmerzen und Hass, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.


Im Landesinneren von Spanien leben nur wenige Menschen, viele Dörfer sind ganz verlassen, in anderen wohnt nur eine Handvoll Menschen. 75 Prozent der spanischen Gesamtbevölkerung lebt in Großstädten und an der Küste. Das Landesinnere hinterlässt den Eindruck gähnender Leere. Wenige verstreute Dörfer. Geister-Dörfer – über 3000 Dörfer sind heute in Spanien komplett verlassen. Fein beschrieben in «Leeres Spanien von Sergio Del Molino». Ebenso beschäftigen sich die Bücher «So forsch, so furchtlos von Andrea Abreu» (Panza de Burro) und «Singe ich, tanzen die Berge von Irene Solà» (Canto yo y la Montaña Baila) mit dem trostlosen Landleben in Spanien. Dieses Drama berührt, wurde zu Recht in Spanien gefeiert. Eine junge Autorin, von der wir noch viel hören werden.


Deshalb rauchen wir so gern Marcos Gras, Señor, weil sich dann jeder in den Bildern in seinem eigenen Kopf verliert, selbst wenn wir vier zusammen dind, wenn wir uns im selben Raum befinden, am selben Tisch sitzen, und dort findet uns keiner, und wir selbst finden uns auch nicht.


Elisa Levi wurde 1994 in Madrid geboren und studierte Audiovisuelle Kommunikation und Darstellende Kunst an der Universidad Europea de Madrid sowie Dramaturgie an der Royal Academy of Dramatic Art in London. 2019 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Por qué lloran las ciudades», den Gedichtband «Perdida en un bol de cereales» (2016) und das Theaterstücks «Ramitas en el pelo», das 2017 in Madrid uraufgeführt wurde. Mit ihrem zweiten Roman «Yo ne sé de otras cosas» (Anderes kenne ich nicht) gelang ihr nun der Durchbruch in Spanien: Nach landesweiter Berichterstattung in Medien wie El País, der größten Tageszeitung in Spaniens, gilt sie als eine der neuen literarischen Stimmen des Landes.



Elisa Levi
Anderes kenne ich nicht
Originaltitel: Yo no sé otras cosas
Aus dem Spanischen übersetzt von Kirsten Brandt
Zeitgenössische Literatur, Drama, spanische Litereratur
Kartoniert, 200 Seiten
Trabanten Verlag, Berlin 2022



Spanische Literatur

Interesse an Literatur aus Spanien? Hier findet ihr Bücher von spanischen Autor:innen mit Links zu den Rezensionen
Gastland Frankfurter Buchmesse 2022



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans