Direkt zum Hauptbereich

AktenEinsicht von Christina Clemm - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



AktenEinsicht 


von Christina Clemm

Geschichten von Frauen und Gewalt


Laut BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Die Strafrechtsanwältin Christina Clemm berichtet an Hand von «Akten» empathisch und gleichzeitig schnörkellos aus ihrer Praxis. Hier geht es nicht immer um häusliche Gewalt. Es geht auch um Machtdemonstration, um den Umgang mit Frauen vor Gericht. Aussage gegen Aussage. Gern wird Frauen Lüge und Missgunst unterstellt. Die Polizei ist machtlos, solange nichts Gewalttätiges passiert ist, Bedrohungen sind keine ausgeführten Taten, Stalking schwer nachzuweisen. Anwälte nehmen die traumatisierten Opfer, die als Zeugen vor Gericht stehen, brutal und systematisch auseinander, leuchten ins Leben der Frauen zurück, arbeiten mit Unterstellungen und Falschdarstellungen, schablonisieren die Täter zu braven, sensiblen Männern, die nur Gutes wollen. Das Opfer wird plötzlich als Täter dargestellt.

Verschiedene Gesichter der Gewalt

Eva ist schwanger. Als ihr Freund ihr in den Bauch tritt, verlässt sie ihn. Der schickt ihr nun Morddrohungen – die Polizei ist machtlos. Siebzehn Mal zeigt Eva ihn an. Mit der toten Eva hat die Polizei nun endlich ihr Delikt. Faizah ist mit einem Deutschen verheiratet. Er sperrt sie ein. Allein darf sie die Wohnung nicht verlassen, nicht Deutsch lernen, Prügel gehören zum täglichen Brot. Es dauert einige Jahre, bis sie aus dem Martyrium entkommt. Ihr Mann ist bereits vorbestraft wegen häuslicher Gewalt, erfährt Faizah. Und weil sie Zeugen aufweisen kann, Rippenbrüche, Spuren von harten Schlägen, Narben von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut, glaubt man dieser Frau vor Gericht. Auch hier wollte der Anwalt des Mannes den Spieß umdrehen, ihn als fürsorglich darstellen, bezichtigte Faizah als Fau, die nicht Deutsch lernen wolle und sich weigere, sich zu integrieren. Mia ist Teilnehmerin einer Gegendemo – auf der anderen Seite demonstrieren reche Gruppen. Sie ruft «Nazis raus!», zeigt den Stinkefinger – wacht im Krankenhaus auf. Ein Mann hatte ihr mit einer Krücke eins übergezogen, sie trägt schwere Kopfverletzungen zurück. Der Richter sieht keine politische Tat und weil der Angeklagte noch im Gerichtssaal dem Opfer 500 Euro als Schmerzensgeld anbietet, hat der Richter ein Einsehen, verurteilt ihn lediglich zu sechs Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung (Mindeststrafe) – der Staatsanwalt und die Nebenklage hatten die Höchststrafe gefordert. Während der Verhandlung wertet der Richter den Stinkefinger Mias als Beleidigung gegen die Demonstanten – sie habe den Schlag ja provoziert. Am Ende schiebt er nach, Mia möge froh sein, dass er sie nicht auch verurteilt habe, sie hätte mit dem Finger eine Beleidigung ausgesprochen. Die politische Gesinnung des Richters ist offensichtlich.

Doppelte Gewalt durch die Gerichte

Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV. Die Geschichten sind so verschieden wie auch die Frauenfiguren in diesem Buch. Ich war angenehm überrascht, dass es hier nicht ausschließlich um häusliche Gewalt geht. Gewalt in der Kindheit, doppelte Gewalt durch die Gerichte, weil die Opfer in die Mangel genommen werden. Hält sich eine Frau wacker und glaubhaft vor Gericht, weil sie den Fragen standhält, wird ihr unterstellt, dass sie eine ausgekochte, selbstbewusste Lügnerin sei. Bricht sie zusammen, ist unfähig zu sprechen, traumatisiert, wird ihr das zur Last gelegt – als Zeugin nicht tauglich zu sein. Liest man diese Berichte, versteht man, warum Frauen häufig Gewalttaten nicht zur Anzeige geben. Denn oft genug zeigen die Zeugen die Tat an, nicht die Opfer. Die Autorin berichtet sachlich, ungeschönt. Monique, die Geschäftsführerin – ihr Leben war bereits in der Kindheit verpfuscht, weil sie mit ihrem Vater mehr als 10 Jahre in einem Bett schlafen musste. Alina, die Prostituierte, sie sich ihr Geld zusammenspart, um später ein besseres Leben zu haben – Einer will das nicht wahrhaben, sie für sich haben, kann nicht verstehen, dass sie nicht mit ihm zusammenleben möchte – hat das Messer in der Hand … Claudia hat ein schickes Leben, teure Klamotten und Schmuck, schnelle Autos – sie ist die große Liebe eines Drogenbosses, darf keinen Schritt alleine gehen. Als sie sich mit einem Mann auf einer Party unterhält, kracht es später zu Hause gewaltig. Sie hätte doch wissen müssen, was passiert, weiß, mit wem sie zusammenwohnt, wie eifersüchtig ihr Lover ist …

Sachinformationen erhellen die Geschichten 

Erst 2002 trat in Deutschland nach langen Bemühungen der Frauenbewegung unter dem Slogan ‹Wer schlägt, der geht!› ein im Zivildienst angesiedeltes Gesetz, das sogenannte Gewaltschutzgesetz in Kraft, mit dem betroffene von Gewalt vor weiterer Gewalt im sozialen Nahbereich geschützt werden sollen.

Neben den Akteneinsichten ist eine Menge Information ins Buch eingearbeitet: Erklärungen zum Rechtssystem, Aufgaben von Anwälten, die Nebenklage, Gesetze, einige Sachinformationen - deutlich abgehoben vom Erzähltext. Das hat mir gut gefallen, da hier die Hintergründe zur jeweiligen Geschichte fachlich ausgeleuchtet werden. Wie geht ein Mensch mit Gewalt um, wie lebt er traumatisiert weiter? Welch enorm schwere Kraft kostet es ein Opfer, dem Täter im Gericht gegenüberzustehen? Wie geht man damit um, wenn man vom Verteidiger des Täters beschuldigt wird, selbst der Täter zu sein? Wie sieht es aus, wenn man mit dem Täter sich um das Umgangsrecht mit den Kindern streiten muss?

Die Gesellschaft zu sensibilisieren

Gewalt gegen Frauen bedeutet wesentlich mehr als Schläge in der häuslichen Wohnung. Christina Clemm hat hier in eindrucksvollen Geschichten dargestellt, wie breit der Fächer ist. Nicht mal erwähnt ist psychische, emotionale Gewalt, die ja selten vor Gericht landet. Ein Sachbuch, das unter die Haut geht, dass uns aufhorchen lässt, spüren, dass mit unserem Rechtssystem etwas nicht in Ordnung ist. Es liegt nicht unbedingt an den Paragraphen, sondern daran, wie unsere Gesellschaft mit Frauen umgeht, wie wir mit Opfern umgehen, Opferschutz, Opferausgleich. Natürlich hat jeder Täter ein Anrecht auf Verteidigung, das will niemand in Frage stellen. Ein Strafverteidiger muss seinen Mandanten verteidigen – es steht in seiner Moral, wie weit er es treibt. Es geht auch nicht darum, Täter wegzusperren, sie sind selbst oft Opfer von Gewalt. Aber es gäbe eine Menge Möglichkeiten, Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Gesellschaft anzuprangern, die Gesellschaft zu sensibilisieren – Frauen und Männer gleichberechtigt zu stellen. Es gibt einige Ideen, Gewalt im Vorfeld zu deeskalieren. Schauen wir nach Spanien, hier ist man uns weite Schritte voraus. Aber das ist ein anderes Thema. Ein Buch, das wie ein Faustschlag wirkt – gewaltig, aber nicht gewalttätig.


Christina Clemm
AktenEinsicht
Geschichten von Frauen und Gewalt
Sachbuch
Kunstmann Verlag, 206 Seiten, 2020

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz Karnauchow und Petra Thees

  Alter könnte so schön sein. Doch ältere Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert. Schlimmer noch, sie denken sich alt und grenzen sich selbst aus, sagen die Autor:innen. Das hat Folgen: Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter gelten als normal. Altenpflege folgt daher dem Prinzip «satt, sauber, trocken». Und genau dieses Prinzip kritisieren Dr. Petra Thees und Lutz Karnauchow und gehen mit ihrem Ansatz neue Wege. Dieses Buch stellt einen neuen Blick auf das Alter vor - und ein radikal anderes Instrument in der Altenpflege. «Coaching statt Pflege» lautet die Formel für mehr Lebensglück im Alter. Ältere Menschen werden nicht nur versorgt, sondern systematisch gefördert. Das Ziel: ein selbstbestimmtes Leben. Bewegung, Physiotherapie und Sport statt herumsitzen! Ein interessantes Sachbuch, logisch in der Erklärung, ein mittlerweile erfolgreiches, erprobtes Konzept. Weiter zur Rezension:    Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen von Lutz...

Interview - Viola Eigenbrodt von Sabine Ibing

                                                                                                                                          © Viola Eigenbrodt Viola Eigenbrodt, freie Journalistin aus dem Kulturbereich, ihr Genre ist der Cosy-Krimi, Geschichten, die im Alpenraum angesiedelt sind, phantastische Geschichten und Entwicklungsromane. Und neuerdings ist Viola Eigenbrodt in die Kinder- und Jugendliteratur eingestiegen. Hier das Interview mit ihr:     Interview...

Rezension - Le Sud: Geschichten und Rezepte aus Südfrankreich - Provence - Alpes - Cote d’Azur von Rebekah Peppler und Joann Pai

  Das Savoir-vivre Südfrankreichs in 80 köstlichen Rezepten und stimmungsvoller Fotografie: Von erfrischenden Cocktails und kleinen Snacks über Vorspeisen, Hauptgerichte und Beilagen, bis hin zu Käse und Desserts, alles, was Südfrankreichs Küche zu bieten hat. Die Provence-Alpes-Côte d’Azur und ihre vielfältigen Koch- und Esstraditionen mit saisonalen Zutaten ausgerichtet. Frankreichs Sommerküche aus dem Süden gekonnt präsentiert. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Le Sud-Geschichten und Rezepte aus Südfrankreich von Rebekah Peppler und Joann Pai 

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - Glutspur von Katrine Engberg

  Liv Jensen, ehemalige Polizistin, hat sich als Privatdetektivin in Kopenhagen selbstständig gemacht. Sie bekommt seitens der Polizei den Auftrag, Gemeinsamkeiten zwischen drei Todesfällen zu finden. Der Suizid eines Häftlings auf Freigang, der Tod einer Museumsangestellten und ein dreieinhalb Jahre zurückliegender Mord an einem Journalisten – diese Fälle können doch keine Gemeinsamkeit haben. Oder doch? Unterstützung erhält Liv dabei von Hannah Leon, einer Krisenpsychologin, die gerade selbst einen Schicksalsschlag erlitten hat, und Nima Ansari, einem iranischen Automechaniker, der selbst unter Mordverdacht gerät. Gemeinsam stoßen sie auf eine dunkle Vergangenheit, die jemand unbedingt geheim halten will. Mit allen Mitteln … Solider Krimi für ausdauernde Leser. Weiter zur Rezension:    Glutspur von Katrine Engberg 

Rezension - Skin City von Johannes Groschupf

  Gesprochen von Florian Schmidtke Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 6 Std. und 37 Min. Der Dienst im Außenbezirk sollte Ruhe in das Leben der Kriminalpolizistin Romina Winter bringen. Doch georgische Einbrecher sind täglich in den Stadtvillen in Dahlem und Lichterfelde unterwegs, und die Bewohner sind in der Folge verängstigt. Die Polizei muss wachsamer sein! Und dann verschwindet auch noch Rominas kleine Schwester. Jacques Lippold nimmt den Berliner Geldadel ganz legal aus, denn er arbeitet als Kunstberater. Berliner Szenen aus verschiedenen Sichtweisen, die sich irgendwann kreuzen werden. Gut aufgebaute Charaktere und atmosphärisches Berlin-Milieu-Feeling heben den Krimi ab, der gut geschrieben eine Empfehlung ist! Weiter zur Rezension:    Skin City von Johannes Groschupf