Rezension
von Sabine Ibing
Views
von Marc-Uwe Kling
Von wegen Generation Klimakleber. Die meisten Teenager, die sie kennt, sind Handykleber. Und ihre politischen Informationen bekommen sie von YouTube und TikTok. Na hurra! Was soll da schiefgehen?
Wir kennen Marc-Uwe Kling als bitterbösen Satiriker mit seinen «Känguruh-Chroniken», feine Gesellschaftskritik mit viel Humor. Aber kann dieser Autor auch Kriminalliteratur schreiben? Gute Crimestorys sind Gesellschaftskritik pur, und einige besitzen eine gute Portion schwarzen Humors. Insofern liegt das gar nicht so weit auseinander. Und ja, ich bin absolut begeistert von diesem bösen Thriller.
Die Gewaltspirale bohrt sich durch das Netz
Die BKA-Kommissarin Yasira Saad sitzt mit Tinder-Date Stefan im «Hard-Rock-Café» auf dem Kuhdamm, als ein schreckliches Verbrechen viral durch die Decke schießt: Die 16-jährige Lena Palmer, seit drei Tagen vermisst, wird durch drei mutmaßlich migrantische junge Männer vergewaltigt, irgendwo auf irgendeinem Rastplatz im Wald. Yasira erhält aus identitätspolitischer Begründung den Fall. Ihr Team soll Lena möglichst lebend finden, die Täter identifizieren und fassen. Die Empörung im Volk ist groß, erste gewalttätige Demonstrationen finden in deutschen Städten statt. Eine rechtsradikale Gruppierung namens «Aktiver Heimatschutz» gewinnt rasant an Zulauf und die Bürgerwehr macht Jagd auf Menschen mit Migrationshintergrund: «Nennt mich Bär. Ich gehe auf die Jagd.» Noch witzelt das BKA-Team: «Unser Bär scheint ein Braunbär zu sein.» Doch die Gewaltspirale bohrt sich durch das Netz. Risse in der Gesellschaft – Straßenschlachten.
Was ist wahr und was ist eine Lüge?
Das Video hat bereits eine Welle der Empörung ausgelöst. Reaktion und Gegenreaktion sind irgendwie vorhersehbar, und trotzdem schockt es Yasira, wie extrem manche Wortmeldungen ausfallen und wie leise die Stimmen der Vernunft bleiben.
Das Ermittlerteam arbeitet auf Hochtouren, aber alle Spuren laufen ins Leere. Das hat es noch nie gegeben. Keine Spur von Lena und nicht der Ansatz auf einen Hinweis zu den Tätern oder dem Tatort. Irgendetwas stimmt hier nicht! Viel mehr will ich nicht verraten – vielleicht noch – es ist ein brandaktuelles Thema, das uns alle angeht: KI und rechte Gewalt, die die Massen mobilisiert. Ist die Demokratie durch Desinformation so einfach zu stürzen? Die Story auktorial erzählte Geschichte ist krass – aber vorstellbar. AFIS und IDKO helfen nicht weiter, Deepfakes, frei von Glitches – was ist wahr und was ist eine Lüge? Eine geniale Geschichte, intelligent geschrieben – eigentlich hatte ich nichts anderes von Marc-Uwe Kling erwartet, denn Flachmänner passen nicht zu seinem Stil. Der Thriller liest sich mit Gänsehaut, ein Szenario, über das man nachdenkt, das ein wenig Angst vor unserer Zukunft auslöst.
‹Außer der künstlichen Intelligenz fällt mir nur eine Technologie ein, bei der die Erfinder selbst davor warnten, dass sie leider das Ende der Menschheit bedeuten könnte.›‹Die Atombombe.›‹Ja›, bestätigte Schiller. ‹Wir arbeiten an einer neuen Atombombe.›
Marc-Uwe Kling, geboren 1982 in Stuttgart, singt Lieder und schreibt Geschichten. Er ist zweimaliger Deutscher Poetry-Slam-Meister (2006, 2007) und gewann zahlreiche Preise für seine Bühnenprogramme. Für die «Känguru»-Geschichten wurde er 2010 mit dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet. Mit seiner Band Die Gesellschaft macht er Reformhauspunk. Kling lebt in Berlin-Kreuzberg.
Views
Thriller, KI, Deepfakes, AFIS, IDKO, Glitches
Kartoniert, 272 Seiten
Ullstein Verlag, 2024
Die Känguru-Apokryphen von Marc-Uwe Kling
Der merkwürdige Kleinkünstler, der mit einem Känguru in einer WG lebt, ist wieder da ... Als Hörbuch ein besonderer Genuss, da Marc-Uwe Kling selbst spricht. Und ich empfehle, diesen Stoff NICHT in den Öffis zu hören: Man wird unangenehm auffallen. Warnung: Wer während des Autofahrens dies Hörbuch einschaltet, könnte durch Lachanfälle vom Verkehr abgelenkt werden!
Weiter zur Rezension: Die Känguru-Apokryphen von Marc-Uwe Kling
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
Kommentare
Kommentar veröffentlichen