Rezension
von Sabine Ibing
Sprich mit mir
von T.C. Boyle
Gesprochen von: Florian Lukas
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 11 Std. und 4 Min.
Er hatte kein Wort für Worte, noch nicht jedenfalls, aber trotzdem kannte er Worte. Er kannte SCHLÜSSEL. Er kannte SCHLOSS. Er kannte RAUS. Er war ein Gefangener. Auch dafür hatte er kein Wort, und wenn er es gekannt hätte, wäre es bedeutungslos gewesen.
Tiere können fühlen, Schmerz fühlen. Aber können sie leiden, fragt sich der Philosoph. Leidensfähig ist nur ein Wesen, so sagt man, das ein bewusstes Selbst besitzt, sich selbst als Individuum erlebt. Können sich Tiere als Individuum wahrnehmen? Dieser Frage geht T. C. Boyle nach, rückt das Bewusstsein eines Schimpansen in den Mittelpunkt. Die Gene von Mensch und Schimpanse stimmen zu 98 Prozent überein. Die Geschichte beginnt im Jahr 1978, in den sechziger und siebziger Jahren gab es Forschungsreihen zur Kommunikation zwischen Affe und Mensch. Sam, ein Schimpanse, wird innerhalb eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts menschlich erzogen, er soll lernen, mit Menschen zu kommunizieren. Er trägt Latzhose und Windel liebt Pizza, Cheeseburger, Cola und Wein. Und Sam ist in der Lage, sich in Gebärdensprache mit Menschen zu unterhalten. Als Professor Guy Schemerhorn mit ihm in einer TV-Show auftritt, ist die Studentin Aimee fasziniert, bewirbt sich auf eine ausgeschriebene Pflegestelle auf der Farm. Zwischen Aimee und Sam baut sich eine innige Beziehung auf, da sie fast 24 Stunden für ihn da ist, mit ihm in einem Bett schläft. Auch zwischen Guy und Aimee entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Alles läuft rund, aber Guy ist von Forschungsgeldern abhängig, der Affe gehört Prof. Dr. Moncrief, der eines Tagen Sam zurückverlangt, der grausame Antagonist dieser Story, der Sam an die Pharmaindustrie als Versuchstier verkaufen will. Zunächst muss Sam in Moncriefs Zuchtstation.
Er sitzt hier nun in einem Käfig
Er kannte ZEIT FÜR FRÜHSTÜCK, ZEIT FÜR GIN TONIC, ZEIT FÜR GESCHICHTE, ZEIT FÜR BETT - doch hier drinnen gab es keine Zeit. Hier drinnen war Zeit eine Leere, die plötzlich von Schreien und Gewalt zerrissen wurde.
Die Perspektive ist auktorial gesetzt, ein allwissender Erzähler, der hier seine Stimme meist personal vergibt; eine davon ist die von Sam. Schluss mit dem netten Leben – wohin sind Guy und Aimee verschwunden, die Sam so liebt. Er sitzt hier nun in einem Käfig. Wo ist sein Spielzeug, wo sind Pizza und Cheeseburger, Cola? Schrecklich sind für ihn die aggressiven Schreie von anderen Affen, schreckliche SCHWARZE KÄFER, die er nicht als Artgenossen identifiziert. Und hier ist der Mann mit der Peitsche, der Sam weh tut.
Sowas von süß
«Wie süß, sagte sie. Sowas von süß!», kommt immer wieder vor: Die Vermenschlichung des zweijährigen Affen in Latzhose, der so süß ist und per Gebärden erklären kann, was er will. Doch Sam wird größer werden, stärker. Guy bezweifelt, dass man den ausgewachsenen Affen unter Kontrolle halten kann, der wesentlich stärker als ein Mensch ist. Aimee vertraut auf ihre Beziehung zu Sam. Sie reist Sam nach, bewirbt sich bei Dr. Moncrief als Tierpflegerin, schrubbt die stinkenden Affenkäfige der hochaggressiven erwachsenen Affen. Und sie kann Sam entführen. Hier geht die Geschichte als Roadmovie weiter. Ein Zuchtschimpanse ist 10.000 Dollar wert, ein Tier ist juristisch eine Sache wie ein Stuhl – Moncrief will seinen Affen wieder zurückhaben - ein echter Schurke, der eine Augenklappe trägt, die er einem Schimpansen zu verdanken hat. Dazu gibt es eine böse Randgeschichte. Wird sich Aimee mit dem Affen verstecken können, ihn im Griff haben? Sam ist ein tricky Schimpanse – er ist sogar in der Lage zu lügen.
Ein Roman, der in die Zeit passt
T.C. Boyle hat wieder einen wahnsinnig guten Roman geschrieben. Er schafft es immer wieder, ernsthafte Themen unterhaltend zu präsentieren, böse, mit seinem unterschwelligen Humor, ergreifend, wenn der die wunden Punkte offen legt. Ein gewagtes Experiment, das geglückt ist. Verantwortung gegenüber der Natur und Respekt gegenüber anderen Arten, ein Roman, der in die Zeit passt. Absolute Empfehlung!
T.C. Boyle zu seinem Roman:
«In «Das Licht» ging es um das menschliche Bewusstsein und die Möglichkeit, es durch psychedelische Mittel zu erweitern, in «Sprich mit mir» dagegen steht das tierische Bewusstsein im Vordergrund. Das Buch greift die Fremdpflegeversuche der 1970er und 80er Jahre auf, bei denen kleine Schimpansen ohne Kontakt zu Angehörigen ihrer eigenen Spezies in menschlichen Familien aufgezogen wurden - wie menschliche Kinder also -, um festzustellen, ob sie imstande waren, unsere Sprache situationsbezogen und durch Nachahmung zu erlernen. Der berühmteste dieser Schimpansen war Nim Chimpsky, dessen bewegende, ja herzzerreißende Biografie von Elizabeth Hess eine der Inspirationen für diesen Roman waren, wie auch andere Texte aus jener Zeit, etwa Roger Fouts› Next of Kin (dt. Unsere nächsten Verwandten) und Maurice K. Temerlins Lucy: Growing Up Human sowie die Werke von Frans de Waal, Jane Goodall und einigen anderen Primatenforschern.»
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in vielen Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017), Good Home (Stories, 2018), Das Licht, (Roman, 2019) Sind wir nicht Menschen (Stories, 2020) sowie Sprich mit mir (Roman, 2021).
Weitere Rezensionen zu T. C. Boyle:
Sprich mit mir
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Dirk Gunsteren
Gesprochen von: Florian Lukas
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 11 Std. und 4 Min.
Roman, zeitgenössische Literatur, amerikanische Literatur
Der Hörverlag, Audible, 2021
Gebunden, 352 Seiten, Hanser Verlag, 2021
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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