Direkt zum Hauptbereich

Niemandsland von Matthias Friedrich Muecke - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Niemandsland 

von Matthias Friedrich Muecke


Der Anfang: Das kleine Stück Brüllfleisch braucht einen Spielgefährten›, sagt eine mitfühlende Nachbarin zu meiner verzweifelten Mutter. Sie legt ihr properes Baby neben mich in den Zwillingswagen. Und tatsächlich höre ich auf zu schreien, als die beiden erwartungsvollen Müttergesichter in meinen Kinderwagen schauen und ich das schnurrende Wesen neben mir spüre.

Ostberliner Alltag in den 60-Ern und 70-Ern autobiografisch erzählt Matthias Friedrich Muecke, hinterlegt mit eigenen Grafiken. Die Geschichte zweier Heranwachsender, zweier Blutsbrüder, die eine Menge Flausen im Kopf haben. Es war eine Kinderwagenbekanntschaft, die sie früh zusammenbrachte, eine Freundschaft, die bis zum bitteren Ende halten wird. Was beginnt wie Lausbubengeschichten, wächst heran zu Geschichten von vorlauten Jugendlichen, die später hinterfragen, sich nicht ins System pressen lassen wollen. Noch immer Blödsinn im Kopf, stoßen sie nun an ihre Grenzen im sozialistischen System. Hier nimmt man Jugendstreiche persönlich – provokante Auflehnung, Verunglimpfung der DDR. Sie sehnen sich nach Freiheit und Individualismus – sie sind neugierig – und genau das führt zum fast unvermeidlichen Drama.



An einem Feiertag haben sie Langeweile, die Mutter ist nicht zu Hause. Sie durchwühlen ihren Kleiderschrank, finden Perücken und Haarteile, Stöckelschuhe, festliche Kleidung usw., verkleiden sich. Raus geht es auf die Straße, bewaffnet mit einer Spielzeug-Kalschnikow, die rattert, während Frank «Es lebe die Nationale Front!» ruft. Und dann parken um die Ecke T-34-Kampfpanzer. Die beiden klettern hinauf.

Mir ist die Lockenperücke ins Gesicht gerutscht. Frank klettert mit hochgestreiftem Minirock über die Kettenglieder, vorbei an einem Guckloch, auf die Drehkanzel ... Am Maschiengewehraufsatz reiße ich mir das Dekolleté auf und ein Sockenknäul fällt in die Tiefe. Mit gespreizten Beinen sitzen wir auf der Kanone und schwenken die Arbeiterfahne. Als ich meine Knallplätzchenpistole ziehe und in die Luft ballere, taucht Frau Reinhold, die Gattin unseres verhassten ABVs, mit ihrem schwarzen Königspudel vorm Kanonenrohr auf.

Atmosphärisch, humorvoll, gleichzeitig tiefsinnig, erinnert sich Matthias Friedrich Muecke an seine Kindheit und Jugendzeit. Sie spielten Cowboy und Indianer, er und Frank waren unzertrennlich. Sozialistischer Alltag, mit Wehmut in der Entbehrung hinüber zur Mauer blickend, Blödsinn im Kopf, sich nicht anpassen wollen, «Ein Kessel Buntes», «Flimmerstunde», Dreieckbadehose, «Blauer Würger», «Rosenthaler Kardaka», Q3A, die Plattenbausiedlung, «Sprelacart», VEB, Zentralkomitee, Todesstreifen – die Vokabeln werden am Ende im Anhang nochmal erklärt. Aber das ist nicht alles. Der Autor hat sein Buch mit Federzeichnungen in Comicmachart illustriert, jeweils passend zu seiner Geschichten, sehr detailreich. Die Zeichnungen unterstreichen die Emotionalität der Satire und sie sind von hoher zeichnerischer Qualität, haben mir sehr gut gefallen. Slapstik, ein Humor, der nie flach wirkt. Ein Roman, dessen Geschichte am Ende einen Kloß im Hals hinterlässt, berührt. Eine künstlerisch-historische Bereicherung für den Bücherschrank.




Matthias Friedrich Muecke wurde 1965 in Ostberlin geboren. Nach einer Berufsausbildung bei der Denkmalpflege, Abitur und Abendstudium an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, arbeitete er als Schaufensterdekorateur, Heizer und Ausstellungstechniker. Seit 1988 ist er freiberuflich als Maler, Grafiker und Szenenbildner für Film und Fernsehen tätig. Seine Werke wurden in diversen Einzelausstellungen präsentiert, darüber hinaus veröffentlichte er etliche Bücher. Im Jahr 2000 gründete er die Edition Mueckenschwarm. 2009 wurde er von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet, 2013 erhielt er den Brandenburgischen Kunstpreis und 2015 den Nordhäuser Grafikpreis. Matthias Friedrich Muecke lebt in Krummenpfahl und Leipzig.


Matthias Friedrich Muecke 
Niemandsland
Roman mit Grafiken bebildert, Format: 160 x 230 mm, 208 Seiten
Kunstanstifter Verlag, 2019

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck