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Kerbholz von Carl Nixon - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing




Kerbholz 


von Carl Nixon


Der Anfang: 

Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde. Vom Rand der bewaldeten Steilküste, an der sich die vom Regen glatte Straße in die so tückische Kurve krümmte, bis hinab zum reißenden Fluss am Fuß der Klippen waren es fast zwanzig Meter. Es schien kein Mond in dieser Nacht, niedrige, bleierne Wolken verdeckten den Himmel. Für den Bruchteil – eines Bruchteils – eines Augenblicks hing das Auto wie schwebend in der Luft. Sehr bald würden die Kinder anfangen zu fallen. Hinab auf die Wipfel der Bäume. Hinab auf das zwischen den Felsbrocken entlangrauschende Wasser. Der Zukunft entgegen.


Die Familie Chamberlain aus London fährt durch die Nacht, vier Kinder an Bord. Der zweiwöchige Urlaub hat gerade begonnen. Der Vater wird bald seinen neuen Job antreten. Zwei Jahre werden sie in Neuseeland wohnen – dann werden sie wieder heimkehren. Es regnet aus Eimern, es ist dunkel, die Straßen sind kurvig und nicht beleuchtet – der Wagen rutscht in der Kurve ab. Ein Knall, alle werden durchgeschüttelt, das Auto steckt mit der Schnauze in einem Flussbett, Wasser dingt ein, die Mutter und das Baby werden hinausgespült, sie sind bereits tot; wie auch der Vater, der vor dem Lenkrad sitzt. Die drei Kinder auf dem Rücksitz sind verletzt, doch Katherine kann das eingeklemmte Bein von Maurice lösen und die drei können hinausklettern. Maurice kann nicht laufen, der Fußknöchel sieht schlimm aus. Katherine hat es an den Rippen erwischt und Tommy hat seinen Kopf schwer angeschlagen. Sie sitzen mitten in der neuseeländischen Wildnis, können die Straße dort oben nicht erreichen. 


Die West Coast ist ein ziemlich zerklüftetes Terrain, Mrs. Barnett. Man muss es wirklich gesehen haben, um es zu verstehen. Es gibt Berge und Flüsse und Buschland, was sie als Wald bezeichnen würden, und jede Menge Küstenabschnitte. Es gibt viele Stellen, an denen ein Auto von der Straße abkommen könnte, ohne je gefunden zu werden – oder jedenfalls nicht so schnell.


Bei Suzanne Barnett in England klingelt das Telefon. Die neuseeländische Polizei meldet einen Knochenfund. Sie haben Maurice Chamberlain gefunden. Suzanne hatte sich lange damit abgefunden, dass die Familie ihrer Schwester tot ist, irgendwo in der Wildnis von der Straße abgekommen; verschluckt im Dickicht, versunken in einem Fluss oder im Meer. Vor 32 Jahren verschwand Familie Chamberlain und Suzanne war mehrfach nach Neuseeland geflogen, hatte sie gesucht, Nachforschungen angestellt; die Polizei hatte mit Suchtrupps ihr möglichstes getan. Der tote Maurice gibt ein Rätsel auf, denn er ist erst gut drei Jahre nach seinem Verschwinden gestorben, abgestürzt von einem Felsen … Er trug die Uhr seines Vaters bei sich und ein Kerbholz. Wo war er in der Zwischenzeit gewesen?


‹Wo lebt’n ihr Leute?›

‹In England. London. Wir sind erst ein paar Tage hier.›

‹Du meinst hier im Westen?›

‹Nein, in diesem Land.›

‹Habt ihr Sippschaft hier? Verwandte. Menschen, die wissen, wohin ihr unterwegs wart, die nach euch suchen?›

‹Nein.›


Der Roman wechselt in den Kapiteln zwischen Suzanne und den Kindern, wechselt in den Jahreszeiten. Die Kinder werden von einem Hippie gefunden, der mit seiner Lebensgefährtin eine Farm betreibt. Ein verlassener Ort: Hier haben früher einmal Bergleute gewohnt, bis die Mine geschlossen wurde. Verkommene Bruchbuden mit uralten Möbeln. Kein Strom, kein fließend Wasser. Peters und Martha pflegen zunächst die verletzten Kinder und lassen sie später sich schuften. Sie müssen die Hilfe abarbeiten, stehen in ihrer Schuld – nichts im Leben ist gratis zu haben. Und überhaupt, die nächste Stadt sei elendig weit entfernt, man müsse Tage durch den Busch wandern, um dort hinzugelangen. Und das wäre auch nur im Sommer zu schaffen.


Er wurde Peters` Wasserträger. Und sein Brennholzsammler. Er war Pfleger für sein großes Pferd. Sein Schlachter von Hühnern, Enten, Kaninchen und der Totschläger von weniger nützlichen Tieren.


Gebildete Kinder, die aus einer gutsituierten Familie stammen, die Geborgenheit eintauschen müssen gegen harte Farmarbeit. Maurice wohnt im abgewrackten Wohnwagen bei dem ruppigen Peter, ist sozusagen sein Knecht. Katherine und Tommy wohnen im Haus bei der sanften Martha, die sie gut versorgt, aber dafür von Katherine harte Mitarbeit auf dem Feld, an den Tieren und in der Küche verlangt. Kann man dem trauen, was die Erwachsenen ihnen erzählen? Lügen sie? Niemand kommt hier her, an diesen Ort. Und sind sie den beiden wirklich etwas schuldig, das sie abarbeiten müssen? Carl Nixon beschreibt das Leben der Kinder und wie sie mit der Situation umgehen – denn jeder entwickelt sich in dieser Umgebung anders. Eine Tragödie für die Kinder. Nicht nur, dass sie die Eltern verloren haben und die kleine Schwester – sie wurden völlig herausgeschleudert aus ihrem sozialen Umfeld, hingestoßen an einen dreckigen, hinterwäldlerischen Ort. Und Suzanne, schuldet sie ihrer Schwester, nie aufzugeben, bis das Rätsel um die verschwundene Familie gelöst ist? Noir pur; ein Drama. Nixon beschreibt eindringlich das ländliche Neuseeland, soziale Randgruppen und atmosphärisch die Landschaft. Kann man sich mit einer Gefangenschaft arrangieren oder bleibt der Hunger nach Freiheit auf der Seele liegen? Ein spannender Noir-Roman, der in seinem melancholischen Sound tief mit den Kindern mitfühlen lässt. Empfehlung!


‹Eines Tages werde ich entkommen›, sagte Maurice, so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Ihr Bruder war ein sturer Narr. Sie war sich sicher, dass Peters ihn totschlagen würde, wenn er noch einmal weglief.


Carl Nixon, geboren 1967 in Christchurch, Neuseeland, schreibt Romane, Kurzgeschichten und Dramen. Er gewann mit seinen Werken zahlreiche Preise, darunter den Katherine Mansfield Short Story Contest für »Fish ’n’ Chip Shop Song«. Sein erster Roman »Rocking Horse Road« war auch in Deutschland ein Erfolg: Das Buch stand 2012 vier Monate lang auf der KrimiZEIT-Bestenliste. 2013 folgte »Settlers Creek«, nominiert für den International IMPAC Dublin Literary Award, und 2015 der Roman »Lucky Newman«. »Kerbholz« ist seine jüngste Veröffentlichung in deutscher Übersetzung. Die Homepage von Carl Nixon finden Sie hier.



Carl Nixon
Kerbholz 
Originaltitel: The Tally Stick, 2020
Aus dem Neuseeländischen Englisch übersetzt von Jan Karsten
Noir, Drama, Zeitgenössische Literatur, Neuseeländische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 304 Seiten
CulturBooks Verlag, 2023



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

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