Direkt zum Hauptbereich

Gras unter meinen Füßen von Kimberly Brubaker Bradley - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Gras unter meinen Füßen 


von Kimberly Brubaker Bradley

Das Jahr, als ich leben lernte 


Mam schlug zu. Richtig fest. Mein Kopf donnerte gegen das Stuhlbein, kurz blitzten Sterne vor meinen Augen. ‹Du redest hier mit gar keinem!›, sagte Mam.


Die neunjährige Ada hat die Wohnung noch nie verlassen, denn ihre Mutter hat sie weggesperrt und behauptet, Ada sei zurückgeblieben. Dabei hat sie lediglich einen Klumpfuß. Allein gelassen übt sie das Gehen, während ihr kleiner Bruder Jamie in der Schule ist. Ada darf nicht in die Schule gehen, sie wäre eine Schande für die Mutter, wenn man sie sähe. Als Jamie mit anderen Kindern 1939 während des Zweiten Weltkriegs aus London aufs Land evakuiert werden soll, um der Bombardierung zu entgehen, entscheidet Ada, dass sie gemeinsam gehen werden. Zusammen schleichen sie sich aus dem Haus zur Sammelstelle; der Weg ist eine Tortour für Ada. So beginnt ein großes Abenteuer für die Kinder wie auch für Susan Smith, die Frau, die gezwungen ist, die beiden bei sich aufzunehmen. 


Ada darf gehen, lesen, reiten - sie darf leben


Vor mir stand ein Mädchen — das zerlumpteste und schäbigste Mädchen, das ich je gesehen hatte — und benutzte das Waschbecken direkt gegenüber, was mir irgendwie komisch vorkam. Ich guckte sie stirnrunzelnd an, und sie guckte stirnrunzelnd zurück. Auf einmal wurde mir klar, dass ich in einen Spiegel schaute. Mam hatte einen Spiegel. Aber der hing hoch oben an der Wand, und ich hatte mich nicht weiter um ihn gekümmert. Jetzt starrte ich in den hier, voller Entsetzen.


Die große Liebe ist es nicht, weder für die alleinstehende Susan Smith, noch für die Kinder. Aber was muss, das muss. Schnell fühlt sich Ada wohl, weil Mrs Smith nett zu ihr ist, den Klumpfuß betrachtet, meint, das könne man operieren. Sie organisiert Krücken für Ada. Hier gibt es eine Badewanne mit heißem Wasser, kuschlige Handtücher und gutes Essen. Zu Hause wartet eine aggressive Mutter, die Ada schlägt und misshandelt. Jamie hat es nicht so einfach im neuen Heim. Er hat Heimweh, und er fragt sich, wozu man jeden Tag baden soll. Während Ada sich das Ponyreiten auf dem Pony Butter beibringt und lesen lernt, beginnt sie Susan zu vertrauen – und Susan beginnt Ada und Jamie zu lieben. Aber wird ihre Bindung ausreichen, um sie gemeinsam durch die Kriegszeit zu bringen? Oder werden Ada und ihr Bruder wieder in die Hände ihrer grausamen Mutter fallen?


Stück für Stück erobert Adae sich die Welt mit Mut, Entschlossenheit und einer guten Portion Humor

‹Maggy hat mir erzählt, Pferde können einen Klumpfuß haben›, sagte ich. ‹Und dass sie so was wieder richten können.› Ich versuchte, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen.

‹Stimmt›, sagte er. ‹Bei Pferden geht das mit speziellen Hufeisen. Ist aber anders als ein Klumpfuß bei Menschen. Denk ich mir. Hast du so was?›

Ich nickte.


Ein Jugendroman, der zu Herzen geht, ganz ohne jeglichen Kitsch. Eine wundervolle Coming-of-age-Geschichte von einem Mädchen, dem letztendlich der Krieg das Leben rettet, und von einer alleinstehenden Frau, die um «ihre Kinder» kämpft. Hier geht es um Ausgrenzung der verschiedensten Art, aber auch um die Menschen, die sich dem entgegenstellen, die die anderen mutig zurechtweisen. Parallel ist der Zweite Weltkrieg ins Bild gerückt, bedrückend beschrieben, ohne in die Tiefe zu gehen. Was macht Krieg mit den Menschen und was verändert sich. Auch das ist bewegend erzählt. Mit Ada ist eine herrliche Erzählstimme geschaffen worden; ein unglückliches Mädchen, das die Welt nicht versteht und mit jeder Minute wächst, als sie die Mutter verlässt. Stück für Stück erobert sie sich die Welt mit Mut und Entschlossenheit und einer guten Portion Humor. Zu Hause war sie eingesperrt: «Jamie ist draußen», murmelte ich. «Na und?», sagte Mam. «Der ist ja kein Krüppel. Du schon.» Bei Susan darf sie hingehen, wo sie will, reiten und lesen lernen. Die Geschwisterkinder stammen aus einer bitterarmen Familie in Londons Arbeiterstadtviertel, wie auch alle anderen Kinder, die mit ihnen im Zug sitzen. Die Armen in der Stadt, die Reichen auf dem Land. Hier kracht Schmutz und schlechte Bildung auf gutes Benehmen, Bildung und saubere Häuser. Im Dorf ist was los … Ada und Jamie lernen viele neue Dinge kennen, neue Wörter; und sie lernen Respekt und Geborgenheit kennen. Das Kinderbuch wurde ausgezeichnet mit dem Luchs der ZEIT und Radio Bremen, mit zahlreichen Preisen, u.a. Newbery Honor Book und Kirkus, Publishers Weekly, und Wall Street Journal Best Book of the Year. Der dtv Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 11 Jahren. Dem schließe ich mich an. Empfehlung für das hervorragende Jugendbuch!


Kimberly Brubaker Bradley und ihr Mann haben zwei erwachsene Kinder und leben mit Hund, mehreren Ponys, einer eigensinnigen Stute und etlichen Katzen auf einer 52 Hektar großen Farm in Bristol, Tennessee.Brubaker Bradley ist zweifache Newbery-Honor- Gewinnerin und Nr. 1 New-York-Times-Bestsellerautorin mehrerer gefeierter Romane für junge Leser, darunter auch ›Gras unter meinen Füßen‹ und der Nachfolgeband ›The War I Finally Won‹.



Kimberly Brubaker Bradley 
Gras unter meinen Füßen: Das Jahr, als ich leben lernte 
Originaltitel: ‎ The War That Safed My Life
Aus dem Englischen übersetzt von Beate Schäfer
Jugendbuch, Jugendroman, Behinderung, Ausgrenzung, Zweiter Weltkrieg
Hardcover‎, 336 Seiten, 14 x 21.1 cm
dtv Verlag, 2024
Altersempfehlung: ab 11 Jahren






Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur hat mich immer interessiert. Selbst seit der Kindheit eine Leseratte, hat mich auch die Literatur für Kinder nie verlassen. Interesse privat, später als Pädagogin, als Leserin, als Mutter oder Oma. Kinder- und Jugendbücher kann man immer lesen! Hier geht es zu den Rezensionen.
Kinder- und Jugendliteratur

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Die Lotsin von Mathijs Deen

  Was geschah auf dem Forschungsschiff? Kaum hat vor Helgoland eine Übung des niederländischen, deutschen und dänischen Grenzschutzes begonnen, geht bei der Küstenwache ein Notruf ein. Eine Klimaforscherin , die mit einem US-Forschungsschiff auf dem Weg von Grönland nach Kiel war, wird vermisst. Xander Rimbach , Ermittler der Bundespolizei See , geht an Bord. Zunächst weist alles auf einen Suizid hin. Rimbach drückt aber das Bauchgefühl, dass hier ordentlich gemauert wird. Irgendetwas stimmt nicht auf diesem Schiff. Ein literarischer Krimi, Kriminalliteratur vom Feinsten. Weiter zur Rezension:    Die Lotsin von Mathijs Deen