Rezension
von Sabine Ibing
Ein Lied für die Vermissten
von Pierre Jarawan
Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen.
15 Jahre dauerte der Bürgerkrieg im Libanon. Schätzungsweise 17.000 Menschen gelten seitdem als vermisst. Pierre Jarawan sagt: «Diese Zahl ist so abstrakt, dass sie bei uns nichts anderes als Verwunderung wird auslösen können. Aber wenn ich es Ihnen als Geschichte erzähle und dann auch noch als eine Geschichte, die sich leicht lesen lässt, auch unterhaltsam, mit Rätseln und Wendungen, dann bringe ich Ihnen das Thema näher, als wenn es hermetischer geschrieben wäre. Und wie beiläufig werden diese Zahlen zu Geschichten und zu Menschen.»
Während des «Arabischen Frühlings» schreibt Amir seine Erinnerungen auf.
Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.
Und genau darum geht es. Eine Erzählung voller Geschichten. Amin ist bei seiner Großmutter in Deutschland aufgewachsen. Seine Eltern waren bei einem Autounfall im Libanon verstorben. Die Großmutter war in Kriegszeiten mit dem Kleinkind nach Deutschland geflüchtet, kehrt mit dem nun Jugendlichen 1994 in den Libanon zurück. Amin freundet sich mit dem einäugigen Jafar an und die beiden verzapfen einigen Blödsinn, erarbeiten sich Taschengeld, indem sie uralte Dinge für wenig Geld einkaufen, sie auf dem Flohmarkt weiterverscherbeln, indem sie erzählen, sie hätten diese angeblichen Schätze von einem Onkel aus Kanada geerbt, erfinden Geschichten über die wertvollen Gegenstände. Während des «Arabischen Frühlings» schreibt Amir seine Erinnerungen auf. Der Libanon bleibt Amin zunächst ein Rätsel. Er ist Libanese, er spricht die Sprache, aber irgendwie ist er es doch nicht. Denn er ist behütet in Deutschland aufgewachsen, hat diesen Krieg nicht erlebt. Beirut, die Heimat, ist zunächst fremd, ebenso seine Menschen. Um den Jungen herum herrscht Schweigen über Vergangenes. Die strikte Teilung der Stadt in Ost- und Westlibanon ist aufgehoben, doch in den Köpfen der Menschen bleiben Grenzen weiter gezogen. In Deutschland hatte die Großmutter nie ein Wort über den Libanon verloren, Amin weiß nicht viel über seine Familie. Doch zurück in Beirut fängt die Oma sich an zu öffnen. Amin erfährt, sie war damals Künstlerin, hatte viel Ausstellungen und sie besaß ein Café. Sie beginnt wieder zu malen, eröffnet ein Café. Ein Neuanfang, der an die alten Wurzeln anknüpft. Und gleich wird die alte Frau wegen ihrer neuen Bilder bedroht. Amir versteht es nicht. Vorsichtig verpackt klagt sie an – die Menschen, die wissen, was sie mit diesen Bildern ausdrücken will, wollen das nicht sehen, mächtige Leute. Amir glaubte, seine Großmutter zu kennen und auf einmal scheint er nicht mehr zu wissen, wer sie wirklich ist. Darum begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit, nach der wahren Geschichte seiner Familie, seiner Eltern und die der anderen; der Vermissten. Er begreift die Struktur dieses Landes, das schon immer in der Hand mehrerer mächtiger Familien lag, die es heute regieren – die nicht aufarbeiten wollen, was damals geschah.
Verdrängung nach Kriegszeiten, nach Katastrophen
Pierre Jarawan beherrscht die Kunst des Schreibens, die arabische Art zu erzählen. Poetisch verpackt, mit viel Humor, lebendig und atmosphärisch präsentiert, umhüllt er die Sprachlosigkeit der Libanesen in eine Erzählung. Kurze Begegnungen und kleine Geschichten werden zu einem Ganzen miteinander verwoben, mit Düften und dem Licht von Beirut, vom Leben der unterschiedlichen Kulturen hinterlegt. Geheimnisse, Freundschaft, Liebe, Verrat, der Stoff, der einen guten Roman ausmacht. Aber manchmal neigt der Autor zum weit Ausschweifenden. Hier geht es um Verdrängung. Verdrängung nach Kriegszeiten, nach Katastrophen, eine ganz normale psychologische Taktik des Menschen, weiterleben zu können. Auch das Nachkriegsdeutschland war von Verdrängung geprägt und es hat lange Zeit gebraucht, bis sich der ein oder andere geöffnet hat – viele haben ihr Wissen mit ins Grab genommen. Unbeteiligte, nachfolgende Generationen arbeiten die Geschichte auf. Der inhaltliche Der Dreh- und Angelpunkt sind hier die über siebzehntausend Vermissten, die während des Bürgerkriegs, (1975 – 1990, bei dem es knapp 100 000 Tote zu zählen gab) im Libanon verschleppt worden, und ihr Schicksal ist größtenteils unklar. Nachfolgende Generationen erwarten Antworten auf ihre Fragen, doch bis heute weigert sich die heutige Führung, eine neutrale Aufarbeitung der Geschehnisse anzugehen; weil sie selbst darin verstrickt ist. Um diesen Unwillen, die Geschehnisse der eigenen Landesgeschichte aufzuarbeiten, geht es Pierre Jarawan in diesem Roman.
Pierre Jarawan
Ein Lied für die Vermissten
Zeitgenössische Literatur, Familienroman, Politischer Roman, Libanon, Beirut
Gebunden, 464 Seiten
Berlin Verlag, 2020
Rezension zu: Am Ende bleiben die Zedern: Am Ende bleiben die Zedern von Pierre Jarawan
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Flügel in der Ferne von Jadd Hilal
Vier Frauen erzählen ihre bewegte Familiengeschichte über vier Generationen. Mit dieser Familie ist der ewige Krieg verbunden: Palästina, der Libanon und somit ein sich stets wiederholender Aufbruch ins Exil ein hin und her zwischen dem Nahen Osten und Europa – die Liebe zur Heimat, die Rückkehr, erneute Flucht. Die vier Icherzählerinnen berichten aus ihrer Sichtweise. Emotionen, Einschätzungen; kindliche Gefühle, Frauen in Verantwortung, die eine Entscheidung für sich und die Kinder treffen müssen. Ein Roman, der mit wenigen Worten auskommt, um eine Familiengeschichte zu präsentieren – reduziert in Fragmenten und vielleicht gerade deshalb mit Intensität. Meine Empfehlung!
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