Rezension
von Sabine Ibing
Flügel in der Ferne
von Jadd Hilal
Der Anfang:
Das Meer. Meine Beine hoben ab. Gleich würde ich wegfliegen in den orangen, wolkenlosen Himmel.
Vier Frauen erzählen ihre bewegte Familiengeschichte über vier Generationen – eigentlich sind es fünf, denn Naïmas Eltern Nedschla und Hasam sind auch involviert. Mit dieser Familie ist der ewige Krieg verbunden: Palästina, der Libanon und somit ein sich stets wiederholender Aufbruch ins Exil ein hin und her zwischen dem Nahen Osten und Europa – die Liebe zur Heimat, die Rückkehr, erneute Flucht. Die Palästinenserin Naïma, ist zehn Jahre alt, als ein Mann mit dem Auto vorfährt, sie fragt, wo ihr Vater sei. Ein paar Stunden später bekommt sie mitgeteilt: Das ist nun dein Verlobter, Dschahid; du bist noch ein wenig jung, wenn du zwölf Jahre alt bist, wird geheiratet. Später erfährt sie, ihr Ehemann habe damals eine Affäre mit einer zweiunddreißigjährigen Frau gehabt, was sein Vater nicht duldete; zu alt, nicht vermögend. Der Vater von Naïma war wohlhabend; ein Schuft, er behandelte die Mutter wie Dreck, züchtigte sie, betrog sie nach Strich und Faden. Naïma musste mit ansehen, wie die Mutter eine Kohlsuppe kochte, der Vater nach Hause kam, erbost war, weil er keine Lust auf Kohl hatte, der Mutter die kochende Suppe ins Gesicht schüttete.
Er heißt Dschahid. Du wirst ihn heiraten. ... ist besser als der Nachbarssohn, Samir mag dich, aber finanziell lässt er zu wünschen übrig.›
Ich hatte keine Ahnung wer dieser Samir war, und von seiner Zuneigung mir gegenüber wusste ich schon gar nichts.
Die Familie flieht in den Libanon
Die Familie ist verteilt auf viele Länder
Wir Palästinenser waren in Syrien nicht besonders beliebt. Nebenbei bemerkt: auch sonst niegends.
Emas Schwester Dunja geht mit ihrem Mann nach Syrien, die Mutter wird sie nie wieder sehen. Dafür aber Jamha, die ihrem Mann nach Dubai folgt – bei der Naïma bei Kriegsunruhen eine Weile unterkommt. Emas Tochter Dara, kehrt aus Sehnsucht in den Libanon zurück und später zieht sie zurück nach Frankreich. Und auch ihrer Tochter Lila zehrt das Heimweh und auch sie kehrt gegen den Willen der Familie in den Libanon zurück. Gleichermaßen muss sie erneut aus Beirut umziehen in die Berge; wieder aufbrechen, als der Krieg bis ins Dorf rückt.
Die jungen Frauen rebellieren
Ich war wie betäubt von der Flucht, aber auch Sahis Worten. ‹Sie hat ihre Familie verlassen›, hatte er gesagt. ‹um zu heiraten, obendrein einen Maurer. Einen Maurer? Mit Abitur und beiden Eltern bei der UNO? Was wird man in Arsun über mich sagen? Was wird man über mich sagen? ... Fertig, mit ihr rede ich nie wieder ein Wort.
Ein schmales Buch mit 200 Seiten fasst fünf Generationen zusammen. Jadd Hilal erzählt keine lange Geschichte. In Sequenzen schafft er prägnante Situationen, die einschneidend für die Frauen der Familie sind. Eine starke Frauenfigur aus jeder Generation. Sie alle suchen ihren Weg zwischen Patriarchat und Selbstbestimmung, zwischen zwei Kulturen, zwischen der Sehnsucht nach dem Land der Kindheit und dem Wunsch nach Freiheit und Frieden. Sie alle sind privilegiert, weil ihre Eltern bei UNO arbeiten, später sie selbst. Es gibt einen Abschnitt, in dem erklärt wird, welche Gehälter, Extrazuwendungen und Privilegien die Beamten erhalten – erstaunlich. Diese Familie ist geprägt von einem immer wiederkehrenden Rhythmus: Die Kinder wachsen im Libanon auf, entfliehen dem Bombenteppich ins Ausland, fühlen sich dort nicht wohl und kehren als junge Erwachsene gegen den Willen der Eltern zurück in ein Land, das ständig unter Beschuss steht. Ab der Generation von Ema wählen die Frauen sich selbst ihre Ehepartner aus, immer einen Mann, den die Familie zunächst ablehnt. Alle diese Ehen scheitern. Das Patriarchat weicht zwar immer mehr auf – aber wenn es drauf ankommt, bekommen es die Frauen hart zu spüren.
Reduziert auf Fragmente und vielleicht gerade deshalb mit Intensität
Bis heute gibt es nichts, was mir mehr fehlt als das libanesische Chaos, diese bunte, überbordende Unordnung, dieses Land, in dem so viele Menschen im Glauben daran, am nächsten Tag ohnehin sterben müssen, Luxusautos kaufen, um danach wegen der Schulden bloss noch zu Hause herumsitzen; diese wild gemische Gemeinschaft, in der man mit allen bekannt war, ohne irgendwen wirklich zu kennen ...
Dieser Roman scheint autobiografisch geprägt zu sein, vielleicht eng verbunden mit der Familiengeschichte von Jadd Hilal, der in der Nähe von Genf geboren wurde, in Frankreich studierte. Es wird am Rande von den Flüchtlingslagern im Libanon berichtet; hier kommt mir zu wenig – die Massen, die desolaten Zustände. Diese Familie ist privilegiert, ist immer sehr gut untergebracht, man verdient gut, die Kinder gehen auf Privatschulen, studieren, man fliegt hin und her; also ein Flüchtlingsdasein auf hohem Niveau. Naïma hat ein Haus am Rand der Stadt mit Blick auf das Flüchtlingslager. Genau das ist ihr wichtig: Wir sind nicht dort unten! Frauen aus vier Generationen einer Familie geben in kurzen Sequenzen Einblick in ihr Leben, mal eine Seite, auch mal vierzig. Jadd Hilal arbeitet szenisch. Die Szenarien, die er herausgearbeitet hat, sind genau beobachtet und beschrieben: Kriegsszenen, Demütigungen, Flucht, Familienangelegenheiten, Selbstbestimmung, Trennungen, Entscheidungen. In jeder liegt eine Wucht von Emotion und meist eine Weichenstellung. Die vier Icherzählerinnen berichten aus ihrer Sichtweise und manchmal erzählt eine andere, wie es weitergeht. Verschiedene Sichtweisen, Emotionen, Einschätzungen; kindliche Gefühle, Frauen in Verantwortung, die eine Entscheidung für sich und die Kinder treffen müssen, zukunftsweisend; die Auflehnung der jeweiligen jungen Generation. Ein Roman, der mit wenigen Worten auskommt, um eine Familiengeschichte von fünf Generationen zu präsentieren – reduziert auf Fragmente und vielleicht gerade deshalb mit Intensität. Meine Empfehlung!
Jadd Hilal, geboren 1987 in der Nähe von Genf, studierte französische Philologie und englische Literatur in Frankreich. Danach lebte er in Schottland und in der Schweiz. Heute forscht er zu Philosophie und Literatur und lebt als Lehrer in Paris. «Flügel in der Ferne» ist sein erster Roman. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Flügel in der Ferne
Originaltitel: Des ailes au loin
Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Sauser
Roman, zeitgenössische Literatur, Familiengeschichte, tunesische Literatur, Libanon
Hardcover, mit Schutzumschlag, 202 Seiten
Lenos Verlag, 2021
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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