Direkt zum Hauptbereich

Flügel in der Ferne von Jadd Hilal - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Flügel in der Ferne 


von  Jadd Hilal 


Der Anfang: 

Das Meer. Meine Beine hoben ab. Gleich würde ich wegfliegen in den orangen, wolkenlosen Himmel.


Vier Frauen erzählen ihre bewegte Familiengeschichte über vier Generationen – eigentlich sind es fünf, denn Naïmas Eltern Nedschla und Hasam sind auch involviert. Mit dieser Familie ist der ewige Krieg verbunden: Palästina, der Libanon und somit ein sich stets wiederholender Aufbruch ins Exil ein hin und her zwischen dem Nahen Osten und Europa – die Liebe zur Heimat, die Rückkehr, erneute Flucht. Die Palästinenserin Naïma, ist zehn Jahre alt, als ein Mann mit dem Auto vorfährt, sie fragt, wo ihr Vater sei. Ein paar Stunden später bekommt sie mitgeteilt: Das ist nun dein Verlobter, Dschahid; du bist noch ein wenig jung, wenn du zwölf Jahre alt bist, wird geheiratet. Später erfährt sie, ihr Ehemann habe damals eine Affäre mit einer zweiunddreißigjährigen Frau gehabt, was sein Vater nicht duldete; zu alt, nicht vermögend. Der Vater von Naïma war wohlhabend; ein Schuft, er behandelte die Mutter wie Dreck, züchtigte sie, betrog sie nach Strich und Faden. Naïma musste mit ansehen, wie die Mutter eine Kohlsuppe kochte, der Vater nach Hause kam, erbost war, weil er keine Lust auf Kohl hatte, der Mutter die kochende Suppe ins Gesicht schüttete. 


Er heißt Dschahid. Du wirst ihn heiraten. ... ist besser als der Nachbarssohn, Samir mag dich, aber finanziell lässt er zu wünschen übrig.›

Ich hatte keine Ahnung wer dieser Samir war, und von seiner Zuneigung mir gegenüber wusste ich schon gar nichts.


Die Familie flieht in den Libanon

1947 wird es zu gefährlich in Palästina und Naïmas Mann flieht mit der Familie in den Libanon. Die Schwiegereltern folgen bald. Hatte Naïma mit Dschahid eine bessere Partie gemacht? Eine Liebeshochzeit war es nicht, klar – aber Respekt? Auch er betrügt sie und natürlich ist er gewalttätig, ist sogar so dreist, eine Frau mitzubringen, die nun mit im Haus lebt – die Geliebte. Als Naïma danach mit Geburtswehen mit ihm im Krankenhaus an der Rezeption steht, er mit einer Pflegehelferin flirtet, sagt sie: «ich bin dir wohl egal!» Und er schmeißt ihr ein Wasserglas an den Kopf. «Zum Glück waren wir schon am richtigen Ort», sagt Ema. Dschahid arbeitet für die Vereinten Nationen. Die eigenwillige Tochter Ema, die sich gegen den gewalttätigen Vater zur Wehr setzt, studiert gegen seinen Willen in Beirut, heiratet Sahi, den Kommunisten – der zwar von Gleichberechtigung redet, sie aber zu Hause nicht praktiziert. Sie müssen in Zypern heiraten, da sie verschiedenen Religionen angehören. Beide werden später bei der UNO arbeiten. Ema bricht mit ihrem Mann während des libanesischen Bürgerkriegs nach Europa auf. Sie landen in Genf, ziehen weiter nach Frankreich, nach Ferney-Voltaire. Die Ehe ist brüchig und Sahi gefällt Genf nicht, er bewirbt sich auf eine andere Stelle.


Die Familie ist verteilt auf viele Länder


Wir Palästinenser waren in Syrien nicht besonders beliebt. Nebenbei bemerkt: auch sonst niegends.

 

Emas Schwester Dunja geht mit ihrem Mann nach Syrien, die Mutter wird sie nie wieder sehen. Dafür aber Jamha, die ihrem Mann nach Dubai folgt – bei der Naïma bei Kriegsunruhen eine Weile unterkommt. Emas Tochter Dara, kehrt aus Sehnsucht in den Libanon zurück und später zieht sie zurück nach Frankreich. Und auch ihrer Tochter Lila zehrt das Heimweh und auch sie kehrt gegen den Willen der Familie in den Libanon zurück. Gleichermaßen muss sie erneut aus Beirut umziehen in die Berge; wieder aufbrechen, als der Krieg bis ins Dorf rückt.


Die jungen Frauen rebellieren


Ich war wie betäubt von der Flucht, aber auch Sahis Worten. ‹Sie hat ihre Familie verlassen›, hatte er gesagt. ‹um zu heiraten, obendrein einen Maurer. Einen Maurer? Mit Abitur und beiden Eltern bei der UNO? Was wird man in Arsun über mich sagen? Was wird man über mich sagen? ... Fertig, mit ihr rede ich nie wieder ein Wort.


Ein schmales Buch mit 200 Seiten fasst fünf Generationen zusammen. Jadd Hilal erzählt keine lange Geschichte. In Sequenzen schafft er prägnante Situationen, die einschneidend für die Frauen der Familie sind. Eine starke Frauenfigur aus jeder Generation. Sie alle suchen ihren Weg zwischen Patriarchat und Selbstbestimmung, zwischen zwei Kulturen, zwischen der Sehnsucht nach dem Land der Kindheit und dem Wunsch nach Freiheit und Frieden. Sie alle sind privilegiert, weil ihre Eltern bei UNO arbeiten, später sie selbst. Es gibt einen Abschnitt, in dem erklärt wird, welche Gehälter, Extrazuwendungen und Privilegien die Beamten erhalten – erstaunlich. Diese Familie ist geprägt von einem immer wiederkehrenden Rhythmus: Die Kinder wachsen im Libanon auf, entfliehen dem Bombenteppich ins Ausland, fühlen sich dort nicht wohl und kehren als junge Erwachsene gegen den Willen der Eltern zurück in ein Land, das ständig unter Beschuss steht. Ab der Generation von Ema wählen die Frauen sich selbst ihre Ehepartner aus, immer einen Mann, den die Familie zunächst ablehnt. Alle diese Ehen scheitern. Das Patriarchat weicht zwar immer mehr auf – aber wenn es drauf ankommt, bekommen es die Frauen hart zu spüren. 


Reduziert auf Fragmente und vielleicht gerade deshalb mit Intensität


Bis heute gibt es nichts, was mir mehr fehlt als das libanesische Chaos, diese bunte, überbordende Unordnung, dieses Land, in dem so viele Menschen im Glauben daran, am nächsten Tag ohnehin sterben müssen, Luxusautos kaufen, um danach wegen der Schulden bloss noch zu Hause herumsitzen; diese wild gemische Gemeinschaft, in der man mit allen bekannt war, ohne irgendwen wirklich zu kennen ...


Dieser Roman scheint autobiografisch geprägt zu sein, vielleicht eng verbunden mit der Familiengeschichte von Jadd Hilal, der in der Nähe von Genf geboren wurde, in Frankreich studierte. Es wird am Rande von den Flüchtlingslagern im Libanon berichtet; hier kommt mir zu wenig – die Massen, die desolaten Zustände. Diese Familie ist privilegiert, ist immer sehr gut untergebracht, man verdient gut, die Kinder gehen auf Privatschulen, studieren, man fliegt hin und her; also ein Flüchtlingsdasein auf hohem Niveau. Naïma hat ein Haus am Rand der Stadt mit Blick auf das Flüchtlingslager. Genau das ist ihr wichtig: Wir sind nicht dort unten! Frauen aus vier Generationen einer Familie geben in kurzen Sequenzen Einblick in ihr Leben, mal eine Seite, auch mal vierzig. Jadd Hilal arbeitet szenisch. Die Szenarien, die er herausgearbeitet hat, sind genau beobachtet und beschrieben: Kriegsszenen, Demütigungen, Flucht, Familienangelegenheiten, Selbstbestimmung, Trennungen, Entscheidungen. In jeder liegt eine Wucht von Emotion und meist eine Weichenstellung. Die vier Icherzählerinnen berichten aus ihrer Sichtweise und manchmal erzählt eine andere, wie es weitergeht. Verschiedene Sichtweisen, Emotionen, Einschätzungen; kindliche Gefühle, Frauen in Verantwortung, die eine Entscheidung für sich und die Kinder treffen müssen, zukunftsweisend; die Auflehnung der jeweiligen jungen Generation. Ein Roman, der mit wenigen Worten auskommt, um eine Familiengeschichte von fünf Generationen zu präsentieren – reduziert auf Fragmente und vielleicht gerade deshalb mit Intensität. Meine Empfehlung!


Jadd Hilal, geboren 1987 in der Nähe von Genf, studierte französische Philologie und englische Literatur in Frankreich. Danach lebte er in Schottland und in der Schweiz. Heute forscht er zu Philosophie und Literatur und lebt als Lehrer in Paris. «Flügel in der Ferne»  ist sein erster Roman. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.



Jadd Hilal
Flügel in der Ferne
Originaltitel: Des ailes au loin
Aus dem Französischen übersetzt von Barbara Sauser
Roman, zeitgenössische Literatur, Familiengeschichte, tunesische Literatur, Libanon
Hardcover, mit Schutzumschlag, 202 Seiten
Lenos Verlag, 2021


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe